Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
steht und der zum Ausdruck bringt, was Gott im Sinn hat – die Bedeutung des arabischen nab’ ist »Neuigkeiten« (die ursprünglich semitische Wurzel im Akkadischen, nabu , bedeutete »rufen«). Die erste griechische Übersetzung, pro-phetes , bedeutete »Sprecher«, was sich auch im Islam gehalten hat: Der Prophet Mohammed hat zudem die Funktion des Boten ( rasoul ) – wobei es einige kleinere Rangunterschiede zwischen der Rolle des Sprechers ( nabi ) und der des Boten ( rasoul ) gab. Die Aufgabe, lediglich in die Zukunft zu schauen, ist auf die Seher beschränkt beziehungsweise auf die Art von Menschen, die mit Wahrsagung zu tun haben, wie etwa die »Astrologen«, die im Koran und im Alten Testament so kategorisch abgelehnt werden. Erneut erwiesen sich das Verhältnis der Kanaaniter zu ihren Theologien und ihre verschiedenen Annäherungen an die Zukunft als zu leichtfertig, und der Prophet zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er ausschließlich mit dem Einen Gott in Kontakt steht und nicht – wie ein Anhänger des Baal – mit der Zukunft.
Die Berufung zum Propheten in der Levante war als Lebensaufgabe alles andere als erstrebenswert. Schon zu Beginn des Kapitels habe ich darauf hingewiesen, dass man ganz und gar nicht erwarten konnte, gehört zu werden: Jesus verkündete, als er über das Schicksal des Elia sprach (der vor Baal gewarnt hatte und dann ironischerweise ausgerechnet nach Sidon geschickt wurde, wo Baal verehrt wurde), dass kein Prophet in seinem Vaterland angenehm ist. Und die prophetische Mission war auch nichts, wofür man sich freiwillig entschieden hätte. Man denke nur an das Leben des Jeremia, eine einzige Aneinanderreihung von Jeremiaden (Wehklagen), denn seine unerfreulichen Warnungen vor Zerstörung und Gefangenschaft (und vor allem der Gründe dafür) machten ihn äußerst unbeliebt. Jeremia ist die Personifizierung der Redewendung vom »Erschießen des Überbringers der schlechten Nachricht« und des Sprichworts Veritas odium parit – Wahrheit gebiert Hass. Er wurde geschlagen, bestraft, verfolgt; er war das Opfer zahlreicher Anschläge, an denen selbst seine eigenen Brüder beteiligt waren. In apokryphen Überlieferungen heißt es sogar, er sei in Ägypten zu Tode gesteinigt worden.
Nördlich des Gebiets der Semiten, in der griechischen Tradition, stoßen wir auf einen ähnlichen Umgang mit Botschaften und Warnungen über den Zustand der Gegenwart und dasselbe Bestrafungsverhalten gegenüber denen, die etwas verstehen, was anderen verborgen bleibt. Kassandra bekam die Gabe, prophezeien zu können – begleitet allerdings von dem Fluch, dass niemand ihr Gehör schenkte –, nachdem ihr die Tempelschlangen die Ohren gereinigt hatten und sie so empfänglich für besondere Botschaften geworden war. Teiresias wurde als Strafe dafür, dass er Geheimnisse der Götter offenbart hatte, seines Augenlichts beraubt und in eine Frau verwandelt, aber als Trost leckte Athene seine Ohren, woraufhin er Geheimnisse in den Gesängen der Vögel vernehmen konnte.
Erinnern wir uns an die Unfähigkeit, aus früherem Verhalten zu lernen, von der wir im zweiten Kapitel sprachen. Das Problem unterlassener Rekursion – Fehlen eines Denkens zweiter Ordnung – ist folgendes: In der Vergangenheit wurden diejenigen verfolgt, die Botschaften verkündeten, welche sich dann auf lange Sicht als richtig und wertvoll herausgestellt haben – könnte man da nicht erwarten, dass sich im Lauf der Zeit so etwas wie ein Korrekturmechanismus herausbildet, dass also intelligente Menschen irgendwann aus dieser historischen Erfahrung lernen und man denjenigen, die Neues zu verkünden haben, mit Verständnis begegnet? Leider findet nichts dergleichen statt.
Diese mangelnde Fähigkeit zu rekursivem Denken bezieht sich nicht nur auf den Bereich der Prophezeiungen, sondern auch auf andere menschliche Aktivitäten: Wenn man meint, dass das, was funktioniert und sich durchsetzt, eine neue Idee sein wird, auf die vor uns noch niemand gekommen ist, also etwas, was wir gemeinhin als »Innovation« zu bezeichnen pflegen, dann würde man erwarten, dass Menschen das aufgreifen und selbst einen klaren Blick für neue Ideen haben, ohne dass sie dabei auf die Wahrnehmung von anderen zurückgreifen müssten. Aber so ist es nicht: Dinge, die für »originell« gehalten werden, sind meistens in Anlehnung an etwas gestaltet, das zu seiner Zeit neu war, es mittlerweile aber nicht mehr ist. Für viele Wissenschaftler bedeutet die
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