Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Abständen und Mengen verabreicht bekommt.
Ich habe kaum medizinische Fachaufsätze gefunden, die mit Nichtlinearität arbeiten und Konvexitätseffekte auf medizinische Probleme anwenden, obwohl man in der Biologie allenthalben auf nichtlineare Reaktionen stößt. (Ich möchte nicht ungerecht sein – ich habe nur in einem einzigen Zusammenhang, auf den mich mein Freund Eric Briys aufmerksam machte, die Jensen’sche Ungleichung gefunden; und nur in einem Zusammenhang wurde sie korrekt angewandt, sodass die Antwort »das ist uns bekannt« von Forschern auf dem Medizinsektor, wenn man ihnen Nichtlinearität erklärt, reichlich unglaubwürdig klingt.)
Bemerkenswerterweise wirken sich Konvexitätseffekte bei Optionen, Innovationen, überhaupt allem Konvexen identisch aus. Hier sollen sie nun auf … Lungen übertragen werden.
Der nächste Absatz ist eher technischer Natur und kann übersprungen werden.
Menschen mit bestimmten Lungenkrankheiten, darunter auch solche mit akutem Lungenversagen, wurden früher an mechanische Beatmungsgeräte angeschlossen. Man ging davon aus, dass konstanter Druck und konstantes Volumen helfen würden – Beständigkeit schien angebracht und nützlich zu sein. Allerdings reagiert der Patient auf den Druck nichtlinear (konvex in einer Anfangsphase, jenseits davon dann konkav), letztlich leidet er also unter dem Regelmaß. Außerdem halten Menschen mit sehr kranken Lungen hohem Druck nicht lange stand, brauchen allerdings viel Volumen. J. F. Brewster und seine Kollegen fanden Folgendes heraus: Wenn sie gelegentlich den Druck erhöhten und zu anderen Zeiten absenkten, konnten sie den Lungen bei vorgegebenem Durchschnittsdruck sehr viel mehr Volumen verschaffen und so die Sterblichkeitsrate senken. Ein weiterer positiver Effekt besteht darin, dass durch kurzzeitige sehr starke Druckerhöhung kollabierte Lungenbläschen wieder geöffnet werden können. Faktisch sieht so die Funktionsweise unserer Lungen aus, wenn wir gesund sind: Sie beruht auf Variationen und »Geräusch«, nicht auf stetiger Luftzufuhr. Menschen sind gegen Lungendruck antifragil. Und das leitet sich direkt von der Nichtlinearität der Reaktion ab – alles Konvexe ist, wie wir gesehen haben, bis zu einem gewissen Grad antifragil. Brewsters Aufsatz konnte empirisch bestätigt werden, aber das ist nicht einmal nötig: Man braucht keine empirischen Daten, um zu beweisen, dass eins plus eins zwei ist, oder dass Wahrscheinlichkeiten sich auf 100 Prozent aufaddieren müssen. 79
Man hat nicht den Eindruck, als hätten Leute, die sich mit Ernährungsfragen beschäftigen, über den Unterschied zwischen zufälliger Kalorienzufuhr und regelmäßiger Ernährung gründlicher nachgedacht; ich werde auf dieses Thema im nächsten Kapitel zu sprechen kommen.
Bei »empirischen Untersuchungen« keine Modelle mit nichtlinearen Effekten wie etwa der Konvexitätsverzerrung zu verwenden, kommt in etwa der Methode gleich, jeden Apfel, der von einem Baum fällt, zu katalogisieren und diesen Vorgang »Empirismus« zu nennen, anstatt einfach mit Newtons Gleichung zu arbeiten.
Beweise, die zu Grabe getragen wurden
Und nun ein Blick in die Geschichte der Medizin. Die Wissenschaft der Medizin konnte uns deswegen so lang in die Irre führen, weil ihre Erfolge weitläufig bekannt gemacht, ihre Fehler dagegen buchstäblich begraben wurden – wie so viele andere interessante Episoden auf dem Friedhof der Geschichte.
Ich kann nicht widerstehen, die Interventionsverzerrung (mit negativen Konvexitätseffekten) mit folgendem Beispiel zu illustrieren. In den 1940er und 50er Jahren erhielten viele Kinder und Jugendliche Bestrahlungen gegen Akne, Vergrößerung der Schilddrüse, Mandelentzündung, zur Entfernung von Muttermalen und der Behandlung von Schuppenflechte. Es kam zur Entwicklung von Kröpfen und zu anderen Spätfolgen, und außerdem starben ungefähr sieben Prozent der Patienten, die dieser Bestrahlung unterzogen worden waren, zwei bis vier Jahrzehnte später an Schilddrüsenkrebs. Gegen Bestrahlung, wenn sie von Mutter Natur stammt, ist andererseits nichts einzuwenden. Wir sind zwangsläufig gegen eine bestimmte Strahlungsdosis – gegen Mengen, die in der Natur auftreten – antifragil. Möglicherweise beugen kleine Strahlungsbelastungen Verletzungen vor und verhindern Krebserkrankungen aufgrund größerer Strahlungsbelastungen, da der Körper eine gewisse Immunität dagegen entwickelt. Und wo wir schon beim Thema Strahlen sind, nur wenige
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