Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Medizin und des Chirurgen unterschieden sich hinsichtlich des Aufgabengebiets und des sozialen Ansehens merklich voneinander – das eine war eine ars , das andere scientia ; Erstere ein auf Erfahrungen beruhendes, mit Heuristiken arbeitendes Handwerk, Letztere eine auf Theorien, ja einer übergreifenden Theorie des Menschen aufbauende Wissenschaft. Chirurgen waren für die Notfälle da. In England, Frankreich und in einigen italienischen Städten gehörten Chirurgen derselben Gilde an wie die Barbiere. Die Sowjet-Harvardifizierung der Chirurgie wurde also lange Zeit eingeschränkt durch die Sichtbarkeit der Resultate – das Auge lässt sich nicht so leicht täuschen. Wenn man bedenkt, dass die Menschen jahrhundertelang ohne Betäubung operiert worden waren, so wird klar, dass es keiner ausgeklügelten Rechtfertigungen dafür bedurfte, nichts zu tun und darauf zu warten, dass Mutter Natur die Dinge regelte.
Heute wird dank der Möglichkeiten der Narkose sehr viel schneller zum Messer gegriffen – außerdem müssen Chirurgen jetzt ebenfalls Medizin studieren, wenn auch nicht an so theorielastigen Instituten, wie es die Sorbonne oder die Universität von Bologna im Mittelalter waren. In der Vergangenheit wurden nur der Aderlass (die Phlebotomie) und einige wenige andere Eingriffe von den Chirurgen relativ hemmungslos praktiziert. Beispielsweise sind Rückenoperationen im Zusammenhang mit Ischiasproblemen heute häufig nicht nur unnötig, der Patient wird zudem den möglichen schädlichen Nebenwirkungen einer Operation ausgesetzt. Es ist erwiesen, dass er sich sechs Jahre nach einer solchen Operation im Schnitt im gleichen Zustand befindet, wie wenn man nichts unternommen hätte. Es bleibt also lediglich ein potentielles Defizit aufgrund der Rückenoperation, da jede derartige Operation mit Risiken einhergeht: Hirnschädigungen aufgrund der Narkose, ärztliche Kunstfehler (Verletzung des Rückenmarks durch den Chirurgen) oder eine Ansteckung mit Krankenhauskeimen. Trotzdem sind Operationen an der Wirbelsäule wie die Wirbelkörperverblockung lumbarer Bandscheiben sehr beliebte Eingriffe, vor allem, weil sie für den Arzt äußerst lukrativ sind. 80
Antibiotika. Jedes Mal, wenn Sie ein Antibiotikum einnehmen, tragen Sie in gewisser Weise mit dazu bei, dass die Bazillen zu antibiotikaresistenten Erregerstämmen mutieren. Hinzu kommt der leichtfertige Umgang mit Ihrem Immunsystem. Sie transferieren Antifragilität von Ihrem Körper auf den Krankheitserreger. Die Lösung des Problems ist, wie nicht anders zu erwarten, dass nur dann Antibiotika genommen werden, wenn der erhoffte Nutzen groß ist. Hygiene – übertriebene Hygiene – hat denselben Effekt, vor allem wenn Menschen jedes Mal, wenn sie mit anderen Menschen zusammengetroffen sind, ihre Hände mit chemischen Waschlotionen reinigen.
Es folgen durch leidvolle Erfahrung bestätigte mögliche Beispiele für Iatrogenik (die alle, abgesehen nur von Fällen, in denen die Patienten sehr krank sind, mehr negative Folgen haben, ob diese Negativfolgen verifiziert wurden oder nicht): 81 Vioxx, ein Entzündungshemmer, der zu gravierenden Herzproblemen führte. Antidepressiva (wenn sie nicht wirklich notwendig sind). Bariatrische Eingriffe (anstelle von Fastenkuren für übergewichtige Diabetespatienten). Cortison. Desinfektionsmittel und Reinigungsprodukte, die Autoimmunerkrankungen Vorschub leisten können. Hormonersatztherapie. Hysterektomie (Entfernung der Gebärmutter). Kaiserschnitt, wenn nicht zwingend erforderlich. Paukendrainage bei Babys als sofortige Reaktion auf eine Mittelohrentzündung. Lobotomie. Eisen-Ergänzungstherapie. Die als Fortschritt angesehene Weißung von Reis und Ausmahlung von Weizen. Sonnenschutzmittel, die wahrscheinlich schädlich sind. Hygiene (wenn sie über ein gewisses Maß hinausgeht: Hygiene kann sich fragilisierend auswirken, indem sie Hormesis unmöglich macht, unsere eigene Antifragilität). Wir nehmen probiotische Produkte zu uns, weil wir nicht mehr genug »Dreck« essen. Lysol und andere Desinfektionsmittel vernichten so viele »Keime«, dass Kinder kein funktionierendes Immunsystem mehr aufbauen können (beziehungsweise dass ihnen die »guten«, freundlichen Keime und Parasiten weggenommen werden). Zahnhygiene: Ich frage mich, ob der Umstand, dass wir unsere Zähne mit einer Zahnpasta voller chemischer Substanzen putzen, nicht überwiegend der Zahnpastaindustrie zugute kommt – eine Zahnbürste ist etwas Natürliches, die
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