Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
fragen sich, warum sich die Menschen, nachdem sie sich Hunderte von Millionen von Jahren den Strahlen der Sonne ausgesetzt haben, plötzlich in solch besonderem Maß davor schützen sollen – liegt es daran, dass wir aufgrund der Veränderungen in der Atmosphäre stärker gefährdet sind, oder weil immer mehr Menschen in einer Umgebung leben, die mit der Pigmentierung ihrer Haut nicht übereinstimmt, oder lediglich daran, dass die Hersteller von Sonnenschutzmitteln hohe Gewinne erzielen wollen?
Die unendliche Geschichte der Truthahn-Situationen
Die Liste solcher von naivem Rationalismus befeuerten Versuche, die Natur auszutricksen, ist lang – immer geht es darum, etwas zu »verbessern«, und ständig wächst der Umfang an eindimensionalem Wissen, indem ein schädliches Medikament oder Heilverfahren zwar aus dem Katalog gestrichen wird, man aber anschließend nicht auf die Idee kommt, dass derselbe Fehler an anderer Stelle auftreten könnte.
Statine. Statine sind Medikamente, die den Cholesterinspiegel im Blut senken sollen. Allerdings sind sie mit einer starken Asymmetrie behaftet. Man muss 50 hoch gefährdete Personen fünf Jahre lang behandeln, um einen einzigen Herz-Kreislauf-Zwischenfall zu verhindern. Statine können Menschen schaden, die nicht sehr krank sind und für die der Nutzen entweder minimal oder gar nicht vorhanden ist. Auf die Schnelle ist es nicht möglich, ein evidenzbasiertes Bild von der versteckten Schädlichkeit von Statinen zu erstellen (dafür bräuchte man jahrelange Forschung – man denke nur an das Beispiel des Rauchens), außerdem beruhen die Argumente, mit denen gegenwärtig der routinemäßige Einsatz dieser Medikamente propagiert wird, häufig auf einigen wenigen statistischen Illusionen, wenn nicht gar Manipulationen (die von den Arzneimittelherstellern benutzten Experimente scheinen mit Nichtlinearitäten herumzuspielen und die sehr Kranken und die weniger Kranken zusammenzufassen; hinzu kommt die stillschweigende Annahme, dass der metrische Cholesterin-Sollwert gleichbedeutend ist mit 100 Prozent Gesundheit). Statine verletzen bei ihrer Anwendung das erste Prinzip der Iatrogenik (keine versteckte Schädigung); außerdem senken sie zwar den Cholesterinwert tatsächlich, aber man ist als Mensch ja nicht auf der Welt, um einen bestimmten Messwert zu senken, eine Note zu bekommen und damit einen Test zu bestehen wie in der Schule, sondern um möglichst gesund zu sein. Und schließlich ist nicht ausgemacht, dass diese Indikatoren, die man zu senken versucht, tatsächlich Ursachen sind und nicht lediglich Symptome eines bestimmten Zustands – so wie ein Baby, dem man ein Kissen aufs Gesicht drückt, sicher aufhören würde zu schreien, ohne dass damit der Grund für sein Unbehagen beseitigt wäre. Medikamente, die der Absenkung bestimmter Werte dienen, sind aufgrund der unklaren Situation in der Rechtsprechung besonders tückisch. Der Arzt hat allen Grund, das Medikament zu verschreiben, denn würde er es nicht tun und der Patient bekäme eine Herzattacke, könnte der Arzt wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagt werden; der Irrtum in der entgegengesetzten Richtung hingegen wird nicht bestraft, denn wegen schädlicher Nebenwirkungen wird die Medizin nicht belangt.
Dasselbe Problem naiver Interpretation in Verbindung mit der Interventionsverzerrung tritt bei der Krebsdiagnose auf: Ein Verzicht auf Intervention wird kaum in Erwägung gezogen, stattdessen wird eine Behandlung, in welcher Form auch immer, favorisiert, selbst wenn zusätzliche Schädigung damit verbunden ist, da Interventionismus durch das Rechtssystem abgestützt ist.
Chirurgie . Medizinhistorisch gesehen hatte die Chirurgie lange Zeit eine wesentlich bessere Erfolgsbilanz aufzuweisen als die an den Universitäten gelehrte Wissenschaft der Medizin; diese Erfolgsbilanz kam in der Eindeutigkeit sichtbarer Ergebnisse unmittelbar zum Ausdruck. Iatrogenik spielt kaum eine Rolle, wenn Schwerverletzte operiert werden, wenn beispielsweise eine Kugel entfernt oder Gedärm wieder an seinen Platz geschoben wird; die potentiellen Nachteile sind im Vergleich zu den Vorteilen gering, die Konvexitätseffekte also positiv. Im Unterschied zu den üblichen pharmazeutischen Eingriffen kann hier kaum die Rede davon sein, dass Mutter Natur das besser hinbekommen hätte. Chirurgen waren Arbeiter, eher Handwerker als Wissenschaftler, daher fühlten sie sich nicht allzu sehr genötigt zu theoretisieren.
Die beiden Berufe des Doktors der
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