Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
führen sollte. Lassen Sie mich das erläutern.
Ich befand mich in einem Fitnessstudio in Barcelona neben dem Seniorchef einer Beraterfirma, einer Branche, die auf der Konstruktion von Narrationen und naiven Rationalisierungen gegründet ist. Wie so viele Menschen, die abgenommen haben, war der Mann höchst interessiert daran, über seinen Gewichtsverlust zu sprechen – es ist einfacher, über Theorien zur Gewichtsreduktion zu reden, als sich daran zu halten. Er berichtete mir, er habe nicht an solche Diäten wie die kohlehydratreduzierende Atkins- oder die Dukan-Diät geglaubt, bis man ihn über den »Insulin«-Mechanismus aufgeklärt habe, was ihn dazu gebracht habe, sich auf die Diät einzulassen. Er nahm schließlich dreißig Pfund ab – hatte aber auf eine Theorie warten müssen, bevor er irgendetwas unternahm. Und das, obwohl es genug Beweise dafür gibt, dass Menschen durch das Weglassen von Kohlehydraten hundert Pfund verlieren, ohne dass sie an ihrer Nahrungsaufnahme im Ganzen etwas verändern – lediglich an der Zusammensetzung! Ich – der ich ja das genaue Gegenteil eines Beraters bin – halte die Begründung »Insulin« für eine fragile Theorie, glaube aber, dass die Phänomenologie, der empirische Effekt, real ist. Erlauben Sie mir nun, die Ideen der postklassischen Schule skeptischer Empiristen vorzustellen.
Wir sind so veranlagt, dass wir auf Theorien hereinfallen. Theorien aber kommen und gehen; was bleibt, ist die Erfahrung. Erklärungen verändern sich immer wieder und haben sich (wegen der kausalen Opakheit, der Unsichtbarkeit von Gründen) im Lauf der Geschichte immer wieder verändert. Die Menschen waren in die schrittweise Entwicklung von Ideen eingebunden und dachten zu jedem Zeitpunkt, sie hätten nun die definitive Theorie gefunden; die Erfahrung hingegen bleibt unverändert.
Wie im siebten Kapitel beschrieben, ist das, was Physiker die Phänomenologie des Prozesses nennen, die empirische Sichtbarmachung ohne Rücksicht darauf, wie ein solcher Prozess mit generellen Theorien verbunden ist, die gerade aktuell sind. Nehmen Sie beispielsweise folgende Feststellung, die vollständig auf Evidenz beruht: Wenn Sie Muskeln aufbauen, können Sie mehr essen, ohne in der Bauchregion weitere Fettpolster anzulegen , und Sie können sich mit Lammkoteletts vollstopfen, ohne einen neuen Gürtel kaufen zu müssen. In der Vergangenheit wurde das mit folgender Theorie rationalisiert: »Ihr Stoffwechsel ist höher, da Muskeln Kalorien verbrennen.« Gegenwärtig höre ich eher: »Sie reagieren sensibler auf Insulin und speichern weniger Fett.« Insulin – Metabolismus – Insubolismus – Metalin – es wird in näherer oder fernerer Zukunft mit Sicherheit noch eine weitere Theorie auftauchen, eine andere Substanz daherkommen, der Effekt jedoch ist immer derselbe.
Das Gleiche gilt für die Behauptung Gewichtheben vermehrt die Muskelmasse . In der Vergangenheit pflegten die Fachleute zu sagen, Gewichtheben führe zu »Mikro-Muskelfaserrissen« mit anschließender Heilung und Umfangsvergrößerung. Heute spricht man von Hormonsignalen oder genetischen Mechanismen, und morgen wird etwas anderes diskutiert werden. Aber der Effekt als solcher trat schon immer ein und wird das auch weiterhin tun.
Das Gehirn scheint, wenn es um Narrationen geht, die letzte Provinz des Theoretiker-Scharlatans zu sein. Wenn man Neuro-Wasauchimmer mit einem beliebigen Thema zusammenbringt, wird es plötzlich ungleich viel respektabler und überzeugender – den Leuten wird die Illusion einer schlüssigen kausalen Verknüpfung vermittelt, dabei ist das Gehirn für so etwas viel zu komplex; es ist einerseits der komplexeste Bestandteil der menschlichen Anatomie, andererseits derjenige, der für Dummkopf-Kausalitäten am anfälligsten ist. Christopher Chabris und Daniel Simons machten mich auf den Nachweis aufmerksam, nach dem ich gesucht hatte: Jede Theorie, die sich irgendwie auf Gehirn-Schaltkreise bezieht, macht einen »wissenschaftlicheren« und überzeugenderen Eindruck, selbst wenn es sich nur um unstrukturiertes Psycho-Neuro-Geschwätz handelt.
Aber diese Kausalität ist tief in der Tradition der orthodoxen Medizin verwurzelt. Avicenna schreibt in seinem Canon (was im Arabischen »Gesetz« bedeutet): »Wir müssen die Gründe von Gesundheit und Krankheit kennen, wenn wir [aus der Medizin] eine scientia machen wollen.«
Ich schreibe über Gesundheit, aber ich möchte mich nicht mehr als unbedingt notwendig auf biologische
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