Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
zu kleinen, sicheren Gewinnen gebracht, indem wir uns massiven potentiellen Fehlern ausgesetzt haben. Unsere Verstehensbilanz, wenn es um Risiken in komplexen Systemen geht (in der Biologie, im Wirtschaftswesen, beim Klima), ist bis heute erbärmlich und gespickt mit retrospektiven Verzerrungen (wir verstehen Risiken immer erst, nachdem eine Katastrophe stattgefunden hat, machen aber immer wieder denselben Fehler), und es gibt nichts, was mich davon überzeugen könnte, dass wir im Bereich Risikomanagement besser geworden wären. In diesem besonderen Fall der Erschaffung von Leben wären wir wegen der schwindelerregenden Ausmaße, die Fehler annehmen könnten, der schlimmstmöglichen Form von Zufälligkeit ausgesetzt.
Man sollte uns Menschen einfach keine explosiven Spielzeuge (Atombomben, Finanzderivate oder Werkzeuge, mit denen wir Leben erschaffen können) überlassen.
Schuldig oder unschuldig
Ich formuliere den letzten Punkt noch einmal aus einer etwas anderen Perspektive. Wenn es in der Natur ein Phänomen gibt, das wir nicht verstehen, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass es auf einer höheren Ebene, die sich unserem Verstehen entzieht, durchaus sinnvoll ist. Es gibt in der Natur eine Logik, die der unseren weit überlegen ist. Aus der Rechtsprechung kennt man die Dichotomie: unschuldig bis zum Beweis der Schuld , im Gegensatz zu schuldig bis zum Beweis der Unschuld; in Anlehnung daran würde ich als Regel formulieren: Was Mutter Natur tut, ist sinnvoll, bis das Gegenteil bewiesen ist; das, was die Menschen, die Wissenschaften tun, ist fehlerträchtig, bis das Gegenteil bewiesen ist.
Lassen Sie uns das Gerede von Evidenz an dieser Stelle beenden. Wenn es Ihnen um »statistische Signifikanz« geht: Es gibt auf unserem Planeten nichts, das so »statistisch signifikant« wäre wie die Natur. Vor ihrer Erfolgsbilanz und der schieren statistischen Signifikanz ihrer immensen Erfahrung, vor der Art und Weise, wie sie es geschafft hat, Schwarzer-Schwan-Ereignisse zu überstehen, muss man einfach Hochachtung haben. Wer sich über die Natur hinwegsetzt, braucht dafür einen äußerst triftigen Grund – und nicht, wie es normalerweise verlangt wird, derjenige, der natürliche Prozesse respektiert. Die Natur auf dem Feld der Statistik zu schlagen, dürfte äußerst schwerfallen – wie ich schon im siebten Kapitel im Zusammenhang mit Verzögerungstaktiken erwähnt habe: Auf den naturalistischen Fehlschluss können wir uns berufen, wenn es um Moral geht, aber nicht im Zusammenhang mit Risikomanagement. 82
Weil er so gravierende Folgen hat, möchte ich den Verstoß gegen die Logik im Namen von »Beweisen« hier noch einmal wiederholen. Ich meine das ernst: Es war ja kein Einzelfall, dass ich, als ich eine unnatürliche Behandlungsmethode wie das Kühlen einer geschwollenen Nase in Frage stellte, mit der schockierten Rückfrage konfrontiert wurde: »Haben Sie dafür Beweise?«; es ging in der Vergangenheit vielen ähnlich, die etwa gefragt wurden: »Können Sie beweisen, dass Transfette schädlich sind?« und genötigt wurden, Beweise vorzulegen – was natürlich ausgeschlossen war, da es Jahrzehnte dauerte, bis die Schädlichkeit zutage trat. Derartige Fragen werden überwiegend von intelligenten Leuten, auch von Ärzten gestellt. Wenn die (gegenwärtigen) Erdbewohner etwas vorhaben, was gegen die Natur gerichtet ist, dann sind sie diejenigen, die beweisen müssen, dass ihr Vorgehen sinnvoll ist – wenn sie es denn können.
Alles Nicht-Stabile, alles Zerbrechliche hatte im Lauf der Zeit mehr als genug Gelegenheit, zugrunde zu gehen. Und die Wechselwirkungen zwischen den Bestandteilen der Natur mussten so moduliert werden, dass das Gesamtsystem am Leben blieb. Über Millionen von Jahren hat sich diese wunderbare Kombination aus Stabilität, Antifragilität und punktueller Fragilität entwickelt – in einem begrenzten Bereich werden Opfer gebracht, damit die Natur als Ganzes besser funktioniert. Wir beispielsweise opfern uns für unsere Gene – wir setzen unsere Fragilität ein, damit sie überleben. Wir altern, sie aber bleiben jung und werden jenseits unserer individuellen Grenzen immer leistungsfähiger. Im kleinen Maßstab geht permanent etwas zugrunde, um Katastrophen im großen Maßstab zu verhindern.
Ein Plädoyer für Ahnungslosigkeit in der Biologie: Phänomenologie
Ich habe bereits ausgeführt, dass Phänomenologie mächtiger ist als Theorien – und dass sie zu drastischeren Strategien
Weitere Kostenlose Bücher