Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Einsatz von Mathematik. Faktisch beruhen die Argumente in diesem und dem folgenden Kapitel alle auf Wahrscheinlichkeitsberechnungen – aber es liegt ihnen kein rationalistischer Einsatz von Mathematik zugrunde, und viele von ihnen ermöglichen die Aufdeckung von eklatanten Widersprüchlichkeiten zwischen Feststellungen zur Schwere einer Krankheit und der Intensität der Behandlung. In den Sozialwissenschaften ist andererseits der Einsatz von Mathematik immer gleichbedeutend mit Interventionismus. Diejenigen, die dieses Geschäft professionell betreiben, setzen Mathematik an allen möglichen Stellen ein, nur nicht dort, wo sie nützlich sein könnte.
Die einzige Bedingung für die hier vorgestellte Art eines klügeren Rationalismus: Man sollte die eigenen Überzeugungen und Handlungen so ausrichten, als hätte man keinen Gesamtüberblick – um klug zu sein, muss man sich damit abfinden, dass man es nicht ist.
Ich habe in diesem Kapitel die Idee der Konvexitätseffekte und die Frage, wo die Beweislast liegt, im Zusammenhang mit der Medizin und mit Risikobewertungen vorgestellt. Im Folgenden komme ich nun auf weitere Anwendungsbereiche von Konvexitätseffekten zu sprechen und thematisiere die Via Negativa als konsequente Lebensgrundhaltung.
78 Eine technische Anmerkung. Es handelt sich hier um eine unmittelbare Folge von Konvexitätseffekten aufgrund der Wahrscheinlichkeitsverteilung der Ergebnisse. Beim »umgekehrten Hanteleffekt«, wenn der Nutzen im Verhältnis zu den Nebenwirkungen klein ist, ist Ungewissheit für die Situation schädlich. Aufgrund des »Hanteleffekts« wirkt sich Ungewissheit andererseits, wenn der Nutzen im Verhältnis zu den möglichen Nebenwirkungen groß ist, eher hilfreich aus. Eine Erklärung mit ausführlichen graphischen Darstellungen findet sich im Anhang.
79 Mit anderen Worten, die Reaktion auf beispielsweise 50 Prozent einer bestimmten Dosis in einem bestimmten Zeitabschnitt, an die sich 150 Prozent der Dosis zeitlich anschließen, ist wirkungsvoller als 100 Prozent der Dosis in beiden Phasen. Auch ohne Empirie lässt sich die Konvexitätsverzerrung leicht abschätzen: Aufgrund des Theorems ist eine solche Verzerrung ein notwendiges Ergebnis der Konvexität.
80 Stuart McGill, ein evidenzbasierter Wissenschaftler, der sich auf Rückenleiden spezialisiert hat, beschreibt den Selbstheilungsprozess folgendermaßen: Wenn der Ischiasnerv in einer zu engen Höhlung eingeklemmt ist und die bekannten Rückenprobleme verursacht, die, wie die Ärzte behaupten, nur durch einen (lukrativen) chirurgischen Eingriff behebbar sind, dann produziert der Nerv Säuren, die sich in den Knochen hineinfressen und im Lauf der Zeit einen größeren Durchlass schaffen. Der Körper leistet bessere Arbeit als Chirurgen.
81 Mein Thema in diesem und dem nächsten Kapitel ist Nichtlinearität in ihrem Verhältnis zur Fragilität und die Frage, wie man sich ihrer im Zusammenhang mit gesundheitlichen Entscheidungsprozessen bedient. Es geht nicht um spezifische ärztliche Behandlungsmethoden und Irrtümer. Meine Beispiele sollen lediglich Fälle vorstellen, bei denen wir konkave Reaktionen außer Acht lassen.
82 Ein häufig angeführtes, allerdings irriges Argument lautet, der menschliche Körper sei nicht perfekt an seine Umgebung angepasst, als ob dieser Umstand bei Entscheidungsfindungen irgendeine Rolle spielen würde. Darum geht es hier nicht; die Natur ist rein rechnerisch geschickter als die Menschen (und hat das auch unter Beweis gestellt), was aber nicht heißt, dass sie perfekt wäre. Man sehe in ihr einfach die Großmeisterin in der Disziplin »Versuch und Irrtum« (im gigantischen Maßstab).
Kapitel 22
Lang leben, aber keinesfalls zu lang
Dienstags und freitags plus Fastenzeit – Wie kann man ewig leben? Antworten von Nietzsche und anderen – Oder aber: Warum man nach ernsthafter Überlegung doch nicht länger leben will
Lebenserwartung und Konvexität
Eines ist sicher: Wenn man bestimmte Aspekte der Medizin oder des bedingungslosen technischen »Fortschritts« in Frage stellt, kommt unweigerlich das Argument, dass wir heute »im Großen und Ganzenlänger leben« als frühere Generationen. Manchmal wird das noch törichtere Argument vorgebracht, der Hang zu einem natürlicheren Lebensstil impliziere den Wunsch, in eine Zeit zurückzukehren, in der das Leben der Menschen »grausam und kurz« war, wobei nicht auffällt, dass das dem Argument entspricht, man würde, indem man lieber frische
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