Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Nahrungsmittel als solche aus der Dose zu sich nimmt, die Errungenschaften der Zivilisation ablehnen, die Rechtsstaatlichkeit und den Humanismus. Dieses Lebenserwartungsargument muss also genauer unter die Lupe genommen werden.
Eine Kombination vielfältiger Faktoren hat zur Steigerung der Lebenserwartung (bedingt durch das Ausbleiben eines Atomkriegs) geführt: die Verbesserung der hygienischen Verhältnisse, Penicillin, der Rückgang der Kriminalität, Fortschritte in der Chirurgie und natürlich einige Mediziner, die in akut lebensbedrohlichen Situationen operiert haben. Wenn wir länger leben, dann liegt das an den Leistungen, die die ärztliche Kunst in Fällen vollbracht hat, wo das Schicksal des Kranken auf Messers Schneide stand, also bei Menschen, deren Zustand wirklich lebensbedrohlich war – hier handelt es sich um konvexe Fälle mit einem geringen Grad an Iatrogenik. Es ist ein großer Irrtum, aus dem Umstand, dass einige Menschen aufgrund bestimmter ärztlicher Leistungen länger leben, zu schließen, dass sämtliche ärztliche Leistungen dazu führen, dass wir länger leben.
Um einzuschätzen, was der »Fortschritt« bewirkt hat, muss man von den Vorteilen, die die ärztliche Behandlung mit sich bringt, die Kosten der Zivilisationskrankheiten abziehen (in primitiven Gesellschaften gibt es fast keine Herz-Kreislauf-Erkrankungen, keinen Krebs, keine Löcher in den Zähnen, keine Wirtschaftstheorien, keine Musikberieselung und andere moderne Krankheiten); die Fortschritte in der Behandlung von Lungenkrebs müssen aufgerechnet werden gegen die schädlichen Auswirkungen des Rauchens. Aus der Forschungsliteratur kann man entnehmen, dass die Bemühungen von Ärzten ein paar wenige Jahre zu dieser Verlängerung beigetragen haben, aber auch hier gilt, dass das zum großen Teil von der Schwere der Erkrankung abhängt (Krebsspezialisten tragen sicher in fortgeschrittenen, noch heilbaren Fällen positiv zur Bilanz bei, wohingegen die Maßnahmen interventionistisch eingestellter Hausärzte sich eher auf der Negativseite niederschlagen). Man muss den fatalen Umstand in Rechnung stellen, dass Iatrogenik, also die Medizin selbst, die Lebenserwartung in einer bestimmten, unschwer abzubildenden Anzahl von Fällen herabsetzt, nämlich bei den konkaven Fällen. Es gibt einige wenige Daten aus vereinzelten Krankenhausstreiks, in denen lediglich (in absoluten Notfällen) eine kleine Anzahl von Operationen durchgeführt wurde; andere dagegen (elektive Eingriffe) wurden verschoben. Je nachdem, welcher Seite der Debatte man sich anschließen will, steigt die Lebenserwartung in solchen Fällen, oder sie scheint zumindest nicht zu sinken. Außerdem wurden bemerkenswerterweise viele der elektiven Operationen anschließend gestrichen, da die Gesundung von allein eingetreten war – was darauf schließen lässt, wie gering manche Ärzte das Wirken von Mutter Natur einschätzen.
Ein weiterer Fehler, der darauf zurückzuführen ist, dass wir uns vom Zufall narren lassen, ist die Annahme, die Menschen hätten vor Beginn des letzten Jahrhunderts lediglich dreißig Jahre gelebt, weil die durchschnittliche Lebenserwartung dreißig Jahre betrug. Dabei war die Verteilung grob verzerrt, da es damals eine sehr hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit gab. Die bedingte Lebenserwartung war hoch – immerhin starben die meisten unserer Vorfahren aufgrund von Verletzungen. 83 Vielleicht trug die Befolgung und Durchsetzung von Recht und Gesetz mehr zur Erhöhung der Lebenserwartung bei als die Ärzte – der Gewinn an Lebenszeit ist also möglicherweise eher gesellschaftlich bedingt und weniger das Ergebnis wissenschaftlichen Fortschritts.
Ein gutes Beispiel liefert die Mammographie. Es ist nachgewiesen, dass die Vorschrift, alle Frauen hätten sich jährlich einer Mammographie zu unterziehen, (bestenfalls) nicht zu einer Erhöhung der Lebenserwartung geführt hat (womöglich bewirkte sie sogar das Gegenteil). Der Anteil von Frauen, die an Brustkrebs sterben, sinkt zwar in der Gruppe, die sich der Mammographie unterzieht, allerdings steigt die Sterblichkeit aufgrund anderer Ursachen signifikant an. Daran lassen sich einfache und messbare iatrogene Effekte aufzeigen: Ein Arzt, der einen Tumor feststellt, kann gar nicht anders als etwas unternehmen, das schädlich ist; er wird operieren und anschließend Bestrahlung, Chemotherapie oder beides anordnen – Vorgehensweisen, die schädlicher sind als der Tumor selbst. Es gibt einen
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