Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
dem Kampfplatz eingetroffen und habe ihn als Letzter verlassen. Auch George Washington zog in die Schlacht – Ronald Reagan und George W. Bush dagegen spielten Computerspiele, während sie die Leben anderer Menschen bedrohten. Selbst Napoleon begab sich in Gefahr; es heißt, wenn er während einer Schlacht auftauchte, habe das denselben Effekt gehabt wie das Hinzustoßen 25000 zusätzlicher Soldaten. Auch Churchill bewies erstaunliche Tapferkeit. Sie alle brachten sich wirklich ein; sie glaubten an ihre Sache. Es war undenkbar, dass jemand, der einen bestimmten Rang hatte, nicht auch unmittelbare, physische Risiken auf sich nahm.
In traditionellen Gesellschaften hatten bezeichnenderweise sogar diejenigen, die scheiterten, aber zuvor etwas aufs Spiel gesetzt hatten, höheres Ansehen als diejenigen, die sich gar nicht erst eingebracht hatten.
Damit kommen wir wieder zur Idiotie von Prognosesystemen, die mich so aufbringt. Vielleicht herrscht in unserer Zeit mehr soziale Gerechtigkeit als in den Zeiten vor der Aufklärung, dafür gibt es heute weitaus mehr Möglichkeiten der Optionalitätsverlagerung, was ein klarer Rückschritt ist. Und zwar aus folgendem Grund: Diese ganze Wissens- und Wissenschaftshuberei bringt es notwendigerweise mit sich, dass das Reden eine immer größere Rolle spielt. Und die Äußerungen von Akademikern, Beratern und Journalisten können eben, wenn es um Prognosen geht, reine Phrasendrescherei sein, vollkommen ohne realen Hintergrund, ohne wahren Gehalt. Wie immer, wenn es um Wörter geht, siegt nicht der, der das Richtige sagt, sondern der, der andere am besten für sich einnehmen kann – derjenige also, der das am eindrucksvollsten wissenschaftlich klingende Material produzieren kann.
Es war bereits die Rede davon, dass der Philosoph Raymond Aron trotz seiner prophetischen Gaben uninteressant wirkte, während diejenigen, die sich hinsichtlich des Stalinismus täuschten, bei den Menschen gut ankamen. Aron war eine Erscheinung, wie sie farbloser kaum vorstellbar ist: Er sah aus, schrieb und lebte wie ein Finanzbeamter, wohingegen etwa sein Feind Jean-Paul Sartre einen höchst extravaganten Lebensstil pflegte, mit ungefähr all seinen Einschätzungen danebenlag und auch gegenüber den deutschen Besatzern ein äußerst ambivalentes und feiges Verhalten an den Tag gelegt hatte. Sartre, der Feigling, war eine glänzende Erscheinung, und leider überlebten seine Werke (man bezeichne ihn bitte nicht mehr als »zweiten Voltaire«; er war alles andere als ein Voltaire).
Mir wurde übel, als ich in Davos dem Fragilisten und Journalisten Thomas Friedman begegnete, der mit seinen einflussreichen Zeitungskommentaren zum Ausbruch des Irakkriegs mit beigetragen hatte. Er musste für seinen Fehler nie bezahlen. Der eigentliche Grund für mein Unwohlsein lag vielleicht gar nicht darin, dass ich jemanden sah, den ich für niederträchtig und gefährlich halte. Es verstört mich einfach zutiefst, wenn ich etwas Falsches sehe und nichts dagegen unternehme; es muss wohl in den Genen liegen. Schließlich geht es hier, um Baals willen, um Schuld, und mit Schuld muss ich mich nicht abfinden. Es gibt ein weiteres zentrales Element klassisch-antiker Moralsysteme: Factum tacendo, crimen facias acrius : Publilius Syrus bezeichnete denjenigen, der eine Straftat nicht verhindert, als Komplizen. (Meine Version dieses Diktums, an das hier noch einmal erinnert sei, steht im Prolog: Wer einen Betrüger als solchen erkennt, ihn aber nicht als Betrüger bezeichnet, ist ein Betrüger.)
Thomas Friedman war in gewisser Weise mitverantwortlich für die Invasion im Irak im Jahr 2003, und er kam damit nicht nur unbeschadet durch, sondern schreibt nach wie vor seine Kolumnen in der New York Times und führt unschuldige Menschen in die Irre. Er bekam – und behielt – die Vorteile, während andere mit den Nachteilen zu leben hatten. Ein Autor kann mit Argumenten mehr Menschen schädigen als jeder Serientäter. Ich komme hier so ausführlich auf Thomas Friedman zu sprechen, weil das eigentliche Problem bei ihm darin liegt, dass er die iatrogenen Effekte in komplexen Systemen nicht versteht und dieses fehlende Verständnis unter die Leute bringt. Er setzte sich für die Vorstellung der Globalisierung ein, diesen Mythos nach dem Motto »Die Erde ist eine Scheibe«, ohne zu erkennen, dass die Globalisierung Fragilitäten mit sich bringt, dass sie als Nebenwirkung zu einer Vermehrung extremer Ereignisse führt und dass es einer
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