Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Evolution geht es nicht um einzelne Arten, sie steht vielmehr im Dienst der gesamten Natur.
Allerdings darf nicht vergessen werden, dass die Evolution Zufälligkeit nur bis zu einer gewissen Grenze schätzt. 17 Wenn eine Katastrophe das Leben auf dem gesamten Planeten auslöscht, werden auch die Fittesten nicht weiterexistieren. Und wenn zufällige Mutationen zu gehäuft auftreten, kann sich der Zugewinn an Fitness nicht stabilisieren und wird möglicherweise sogar aufgrund einer neuen Mutation ins Gegenteil verkehrt. Um es noch einmal zu sagen: Die Natur ist bis zu einem gewissen Punkt antifragil, aber dieser Punkt liegt sehr weit oben – die Natur kann eine große, sehr große Menge an Schocks verkraften. Wenn eine nukleare Katastrophe das Leben auf der Erde fast, aber nicht vollständig auslöscht, dann wird irgendeine Ratte, irgendein Bakterium aus dem Nichts auftauchen, vielleicht von ganz unten aus dem Meer, und alles geht wieder von vorne los, ohne uns und natürlich ohne die Mitglieder des United States Office of Management and Budget.
Hormesis liegt also vor, wenn der einzelne Organismus unmittelbar von einer Schädigung seiner selbst profitiert. Evolution dagegen findet statt, wenn eine Schädigung dazu führt, dass ein einzelner Organismus untergeht und die Vorteile auf andere übertragen werden, auf die Überlebenden und die zukünftigen Generationen.
Ein gutes Beispiel dafür, wie Gruppen von Organismen bei ihrer Evolution von Schädigungen profitieren (ich wiederhole, bis zu einem gewissen Punkt), während das für den einzelnen Organismus nicht zutrifft, ist das Phänomen der Antibiotikaresistenz. Je intensiver versucht wird, die Bakterien zu schädigen, desto stärker sind die überlebenden – es sei denn, es gelingt, sie völlig auszurotten. Dasselbe beobachtet man bei der Krebstherapie: Häufig vermehren sich Krebszellen, die die Toxizität von Chemotherapie und Bestrahlung überleben, schneller und besetzen den Platz, den die schwächeren Zellen freigemacht haben.
Organismen sind Populationen und Populationen sind Organismen
Der Gedanke, bestimmte Phänomene als Population und nicht als Individuum zu interpretieren, wobei der Nutzen für Letzteres sich aus einer Schädigung des Ersteren ergibt, kam mir beim Studium der Arbeiten über Antifragilität des Genetikers und früheren Physikers Antoine Danchin. 18 Danchin zufolge muss jede Analyse der Tatsache Rechnung tragen, dass ein Organismus nichts Isoliertes ist, sondern dass es Schichten und Hierarchien gibt. Wenn man Wesen als Populationen betrachtet, greifen die Begriffe »Hormesis« und »Mithridatisation« für eine nähere Bestimmung von Antifragilität zu kurz. Warum? Ich habe bereits darauf hingewiesen: Hormesis ist eine Metapher für direkte Antifragilität – ein Organismus profitiert unmittelbar von einer Schädigung; bei der Evolution profitiert etwas von der Schädigung, das hierarchisch über dem Einzelorganismus steht. Von außen wirkt es wie Hormesis, im Inneren dagegen gibt es Gewinner und Verlierer.
Wie funktioniert diese Schichtung? Ein Baum hat viele Äste, die aussehen wie kleine Bäume; diese dickeren Äste haben jeweils wieder viele kleinere Zweige, die ihrerseits wie noch einmal kleinere Bäume aussehen. Es ist dies ein Beispiel für fraktale Selbst-Ähnlichkeit , eine Vision des Mathematikers Benoît Mandelbrot. Eine ähnliche Hierarchie haben viele Dinge in sich, wobei wir von außen nur die oberste Schicht erkennen. Die Zelle beherbergt eine Population interzellulärer Moleküle, der Organismus trägt eine Population von Zellen in sich, und die Spezies besteht aus einer Population von Organismen. Ein Mechanismus, der die Spezies stärkt, vollzieht sich auf Kosten von einzelnen Organismen, und die Stärkung des Einzelorganismus vollzieht sich auf Kosten einzelner Zellen, was sich nach unten und nach oben weiter durchbuchstabieren lässt.
Wenn man beispielsweise jeweils kleine Mengen einer giftigen Substanz zu sich nimmt, sind die Mechanismen, durch die der Organismus stärker wird, ein evolutionärer Prozess innerhalb des Organismus: Schlechte (und schwache) Proteine in den Zellen werden durch stärkere – jüngere – ersetzt, und die stärkeren bleiben verschont (oder ähnliche Vorgänge). Wenn Sie nichts mehr essen, dann gehen die schlechten Proteine zuerst zugrunde und werden vom Körper recycelt – man nennt diesen Vorgang Autophagie . Es handelt sich hier um einen rein evolutionären Prozess: Selektion und
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