Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Zuordnungen fehl am Platz; man kann nicht erkennen, wie ein Mechanismus funktioniert, wenn man sich nur auf einzelne Teile konzentriert.
Von Menschen gemachte komplexe Systeme haben die Tendenz, nicht mehr kontrollierbare Reaktions-Kaskaden und -Ketten zu entwickeln, die jegliche Vorhersehbarkeit herabsetzen, ja eliminieren und ihrerseits gravierende Ereignisse zur Folge haben. Die moderne Welt schreitet also zwar hinsichtlich des technischen Wissens fort, aber das führt paradoxerweise dazu, dass alles sehr viel unvorhersehbarer wird. Da das Künstlich-Konstruierte immer mehr zunimmt, da wir uns immer weiter von den Modellen entfernen, die uns unsere Vorfahren und die Natur zur Verfügung stellen, und da wir aufgrund unserer immer komplizierter werdenden Realität viel von unserer Robustheit verlieren, gibt es immer mehr Schwarze Schwäne. Außerdem sind wir Opfer des »Fortschritts«, einer neuen Krankheit (ich gebe ihr in diesem Buch den Namen Neomanie) , die uns dazu verführt, Systeme zu errichten, die anfällig sind für Schwarze Schwäne.
Ein fataler, dabei zentraler und immer wieder verkannter Aspekt von Schwarzen Schwänen ist der Umstand, dass die Wahrscheinlichkeit seltener Ereignisse eben nicht berechenbar ist. Wir wissen weniger über ein Jahrhunderthochwasser als über ein Jahrfünfthochwasser – mit abnehmender Wahrscheinlichkeit vergrößern sich die Modellfehlerwerte. Je seltener ein Ereignis ist, desto weniger ist es handhabbar, und desto weniger können wir wissen, wie häufig es auftritt – doch andererseits gilt auch: Je seltener ein Ereignis ist, desto optimistischer präsentieren die »Wissenschaftler« auf Konferenzen ihre Vorhersagen, Modelle und Power-Point-Präsentationen mit Gleichungen auf bunten Folien; desto energischer suggerieren sie, dass sie der Lage schon Herr werden.
Sehr zugute kommt uns der Umstand, dass Mutter Natur dank ihrer Antifragilität die beste Expertin für seltene Ereignisse ist und am besten mit Schwarzen Schwänen umgehen kann; in den Jahrmilliarden ihrer Existenz hat sie es geschafft, fortzubestehen, ohne dass ihr ein von einer Berufungskommission nominierter Fachmann einer Elitehochschule Führungsanweisungen gegeben hätte. Antifragilität ist viel mehr als das Gegenmittel gegen Schwarze Schwäne; wer Antifragilität verstanden hat, verliert die Furcht vor solchen Ereignissen, da er erkennt und anerkennt, wie notwendig sie für die Geschichte der Menschheit, die Technikentwicklung, das Wissen – für einfach alles sind.
Robust ist nicht robust genug
Man darf nicht vergessen, dass Mutter Natur mehr ist als lediglich »sicher«. Sie zerstört und tauscht aus, selektiert, ordnet neu. Wenn es um seltene Ereignisse geht, reicht es nicht aus, »robust« zu sein. In Anbetracht der Schonungslosigkeit der Zeit geht auf Dauer alles, was auch nur im Mindesten verwundbar ist, zu Bruch – doch unser Planet existiert bereits seit ungefähr vier Milliarden Jahren. Es kann also nicht nur darauf ankommen, robust zu sein. Man bräuchte schon eine absolute Robustheit, damit ein Riss nicht zur Zerstörung des gesamten Systems führt. Da aber absolute Robustheit unmöglich zu erreichen ist, muss es einen Mechanismus geben, mit dem das System sich kontinuierlich regeneriert, indem es unvorhersehbare Erschütterungen, Stressoren oder Volatilität in seinem Sinne nutzt, anstatt darunter zu leiden.
Das Antifragile profitiert auf lange Sicht von Vorhersagefehlern. Denkt man diese Vorstellung konsequent zu Ende, dann müssten heute auf der Erde viele Dinge, die vom Zufall profitieren, überlebt haben – und andererseits müssten viele Dinge, die für Zufälligkeiten anfällig sind, verschwunden sein. Und das ist tatsächlich der Fall. Wir wiegen uns in der Illusion, das Funktionieren unseres Planeten sei abhängig von Plänen, universitärer Forschung und bürokratischen Finanzierungsmaßnahmen, doch es gibt äußerst überzeugende Hinweise darauf, dass das eine Illusion ist – die Illusion, die ich »Flugunterricht für Vögel« nenne. Technik ist das Resultat von Antifragilität – genutzt von risikofreudigen Personen, die durch Versuch und Irrtum und Tüfteleien etwas entwickeln, wobei die Pläne von Nerds nur eine völlig untergeordnete Rolle spielen. Ingenieure und Tüftler entwickeln Dinge, Geschichtsbücher hingegen werden von Akademikern verfasst; wir müssen uns also die historische Interpretation von Wachstum, Erneuerung und vieler ähnlicher Bereiche noch einmal
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