Antiheld (German Edition)
noch die Sorge, dass er stürzen und sich die Knochen brechen könnte.
Zuerst wusste ich nicht, was ich antworten sollte. Ich war regelrecht überrascht und irritiert, obwohl es natürlich eigentlich keine Frage hätte sein dürfen. Natürlich müsste man sofort helfen. Was ist schon dabei? Warum sind wir bloß so skeptisch gegenüber unseren Mitmenschen geworden? Warum bleiben wir vornehmlich immer nur für uns, unter uns, allein mit unseren Gefühlen und Gedanken, isoliert von unseren Mitmenschen, die wir oft verwerflich den Rest nennen? Diese Frau tat nichts anderes, als freundlich um meine Hilfe zu bitten.»
Hier mache ich eine Pause. Alles läuft nach Plan. Hillemann starrt immer noch konzentriert auf das Pult oder tut so, als wäre er konzentriert. Die Klasse hört schweigend zu. Niemand schöpft Verdacht.
«Vorsichtig fragte ich, welchen Umfang denn eine gewisse Zeit habe», lese ich weiter. «Daraufhin lächelte sie verlegen. Ungefähr drei Wochen war ihre Antwort.
Das ist kein Problem, sagte ich und versprach ihr, die Post, wenn welche anfallen würde, bis zu seiner Tür zu bringen.
Bitte klingeln Sie, sagte sie mit ernster Miene, die Post ist sehr wichtig für ihn, und es ist vor allem wichtig, dass er sie persönlich in Empfang nimmt. Alte Männer werden manchmal etwas wunderlich.
Ich antwortete, dass es wirklich überhaupt kein Problem darstelle, die Post persönlich zu übergeben. Sie gab mir den Briefkastenschlüssel und verabschiedete sich.»
Ich tue so, als sammele ich meine Gedanken, dabei kann ich nur daran denken, wie sie alle bei der Pointe kotzen werden. Der größte Vorteil meiner Tarnung besteht darin, dass ich vorlesen kann und nicht im Text herumstottere wie die allermeisten Idioten, die vor einem Publikum lesen.
In meiner Kindheit habe ich an zahlreichen Vorlese-Wettbewerben teilgenommen und einige davon gewonnen. Erfahrung zahlt sich eben aus. Instinktiv weiß ich, wie und was ich betonen muss. Ich lese die Geschichte eben wie eine Geschichte, aus der die Betroffenheit nur so heraustrieft, und da, da sind alle gleich.
Wenn der moralische Zeigefinger erst einmal drohend über einem schwebt, wenn das schlechte Gewissen an einem zu nagen beginnt, dann, ja dann hören sie alle zu, so einfach ist das. Ein paar billige Effekte reichen aus. Einfach an der Mitleidsschraube drehen, und schon hast du sie alle gefickt.
«Am ersten Tag lag überhaupt keine Post für den alten Mann in seinem Briefkasten», fahre ich fort, «lediglich Werbung eines Lebensmitteldiscounters, die ich direkt in den Altpapiercontainer entsorgte. Gerade als ich die Blättchen mit den Angeboten weggeschmissen hatte, dachte ich: Wo von lebt der alte Mann eigentlich? Wer kümmert sich jetzt, in diesem Moment, um ihn? »
Nach diesem überaus gefühlvoll intonierten Satz bekomme ich natürlich die erwartete Publikumsreaktion, sogar Bibby, die mich ansonsten verachtet, nickt zustimmend und macht eine wissende Miene, ganz nach dem Motto: Die Welt ist so schlecht, und jetzt hast auch du es bemerkt und willst es ändern.
«Ich hatte die Bilder meines Großvaters vor Augen: Der alte Mann hatte sich in seinen letzten Tagen, den Tagen vor seinem einsamen Tod, nur noch von Kondensmilch und trockenem Brot ernährt. Naturgemäß begann ich, mir Sorgen zu machen, echte Sorgen .
Ich dachte darüber nach, wie mein Großvater sich wohl gefühlt haben musste, so ganz allein in der großen Wohnung, wissend und somit auf den Tod wartend. Meine Eltern hatten lange Zeit auf ihn eingeredet, die Wohnung nach dem Tod seiner Frau, meiner Großmutter also, aufzugeben, und sogar versucht, ihm ein schickes Seniorenheim schmackhaft zu machen, doch er wollte die Wohnung partout nicht verlassen. Da ließ er nicht mit sich reden.
Er verbot uns sogar, das Wort ‚Heim’ in seiner Gegenwart zu benutzen. Natürlich, an diesen vier Wänden, in denen er die meiste Zeit seines glücklichen Lebens verbracht hatte, hing sein Herz und auch seine ganze Erinnerung. Er konnte das nicht so weggeben. Das verstand ich, und doch hatte ich immer das Gefühl, dass er allein gelassen worden war von uns , seiner eigenen Familie.
Ich versuchte, mich in seine Lage hineinzuversetzen , die Situation meines Großvaters nachzuempfinden, und alles, was ich erkennen konnte, war, dass niemand für ihn da gewesen war. Alle waren stattdessen mit ihrem eigenen Leben beschäftigt gewesen, hatten ihre eigenen kleinen Kriege ausgetragen und den alten Mann einfach übersehen, der
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