Antiheld (German Edition)
eines jungen Mannes, eines jungen Mannes, der sich das gute Herz bewahren will. Jemand, der im richtigen Augenblick mit dem Nachdenken beginnt und sich traut, wirklich wichtige Fragen zu stellen.»
Rasch werfe ich noch einen Blick zu Hillemann. Man erkennt an seiner Mimik, dass die bloße Erwähnung meiner letzten Arbeit bei ihm schon Übelkeit erregt. Dabei war Das Gedächtnis des Patriarchen wirklich nur als eine kleine Abrechnung mit der politischen Korrektheit unserer völlig humorlosen Zeit gedacht. Nichts sonderlich Dramatisches. Lediglich die Anekdoten eines Diktators, der zugegeben recht freimütig aus dem Nähkästchen plaudert und Tipps für den von der Weltöffentlichkeit unbemerkten Völkermord gibt.
Meiner Meinung nach selbstredend ein Meisterwerk, Hillemanns Meinung nach eine durch und durch skandalöse Arbeit. Nicht skandalös im eigentlichen, subversiven Sinn, sondern skandalös aufgrund und wegen ihrer Primitivität.
Schund und Dreck zugleich, resümierte er abschließend und fragte sich dann laut, also eigentlich fragte er den gesamten Kurs, warum ich mein zweifellos vorhandenes, das könne man nicht leugnen, Talent stets und ausschließlich für derartige Banalitäten missbrauchen und mich damit auch noch so dreist produzieren müsse. Ob das ein Zwang sei, fragte er, und was ich da genau kompensiere, denn irgendetwas gefalle mir ja an der Verkörperung des selbstverliebten Misanthropen so sehr, dass ich sie immer wieder und aufs Neue darbieten müsse.
Zu guter Letzt sah er mich auch noch mit der Sorte von Blick an, den sich sonst nur frisch verlassene Ehemänner in ihre Fressen schrauben, und fragte mich allen Ernstes, warum ich mich selbst so vergeuden und mein Potenzial nicht richtig und vor allem nicht für die richtigen Inhalte nutzen würde. Mit meinem Talent wäre ungleich mehr möglich. Ich könnte so viel geben und zurück geben, aber das würde mich ja nicht im Geringsten interessieren. Ich sei einfach nur voller Hass und würde nicht verstehen, nicht verstehen wollen , dass dieser Hass im Grunde ja auch nur ein Abwehrmechanismus sei, so er. Eigentlich würde ich verzweifelt nach Zuwendung und Verständnis suchen, nach ein wenig Aufmerksamkeit.
Die einzige Reaktion, die mir diese lächerlich hippieske Rede entlocken konnte, war naturgemäß ein müdes Lächeln. Natürlich! Hillemann als Seelenretter verwirrter junger Männer, als Begradiger ideologischer Ausreißer oder gleich als notorischer Kummerkasten gestrandeter Kleinexistenzen, you name it!
Ich kann das paternalistische Geschwätz dieses hirntoten Weltverbesserers einfach nicht mehr hören. Doch das eigentlich Fatale ist, dass Hillemanns Gesicht dieselbe Physiognomie besitzt wie das meines Vaters und ich aufgrund dieser Tatsache immer sofort daran zweifeln muss , ob er tatsächlich dazu in der Lage ist, richtig zu denken, oder ob ihm die Natur nur einen bösen Streich gespielt hat und er glaubt , dass er richtig denken würde, sein Denken aber eigentlich bloß ein minderwertiges Sub denken, ein Unterdenken ist.
«Alles begann damit, dass seine Tochter an meiner Wohnungstür klingelte», beginne ich, «und mir sozusagen zwischen Tür und Angel gestand, dass ihr die gesamte Situation zwar sehr unangenehm sei, sie mich aber dennoch um diese eine kleine Gefälligkeit bitten müsse.
Ob es mir nicht möglich wäre, stellvertretend für sie, da sie für eine gewisse Zeit verreise, ihrem Vater die Post zu überbringen. Ihr Vater sei sehr alt und gebrechlich und unter keinen Umständen mehr in der Lage dazu, den beschwerlichen Weg – immerhin drei Etagen – bis zum Briefkasten allein und ohne fremde Hilfe zurücklegen zu können.
Da es ja in diesem ganz und gar unmodernen Haus leider keinen Aufzug gäbe, habe sie bereits alles versucht, auch auf offiziellem Weg, aber der Briefträger weigere sich inständig, eine Ausnahme zu machen und ihrem Vater die Post wenigstens vor die Tür zu legen. Die Begründung, echauffierte sie sich, sei, dass der Dienstplan diese ‚Extratour’ nicht erlaube, und ihr Einwurf, dass die Korrespondenz wirklich alles sei, was dem alten Mann noch geblieben sei, habe der Postbote einfach ignoriert.
Und da der alte Herr recht starrsinnig ist, sagte sie, gehe ich davon aus, dass er in meiner Abwesenheit bestimmt versuchen wird, dennoch den Briefkasten zu erreichen, allein, ohne fremde Hilfe. Ich müsse verstehen, so sie, dass eine solche Anstrengung den alten Herren vollends erschöpfen würde. Zusätzlich
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