Antiheld (German Edition)
Sein gesamter Zustand schien sich auf drastische Weise verbessert zu haben, die Tränensäcke waren fast verschwunden und der Blick klarer.
‚Guten Tag’, begrüßte er mich freundlich, und ich nickte verblüfft. ‚Mein Name ist Keilmann. Wolf Keilmann’, sagte er und sah mich abwartend an.
‚Mein Name ist Andor’, erwiderte ich.»
Es ist so bezeichnend , dass niemand richtig zuhört, alle tun nur so als ob , alle nicken verständnisvoll, aber genauso gut könnten sie ihr eigenes Todesurteil, ihre eigene Hinrichtung abnicken.
Wenn der Held die formal richtigen Schritte wählt, ist die Logik völlig gleichgültig, dann überhören und übersehen wir gerne die kleinen Fehler, die uns das Vergnügen nehmen könnten. So funktionieren die großen Erzählungen, denen die kleinen Menschen so gerne lauschen, stets und so funktioniert das auch hier: Alle hören nur auf die Betroffenheitssprache und erdenken sich den Rest.
Sie hören armer, alter Mann, allein , Schicksal, Krankheit, vielleicht Tod, und denken Katharsis und Erlösung, erwarten also eine zutiefst menschliche, menschelnde Geschichte. Und Hillemann ist, je länger er zuhört, sicherlich völlig überzeugt davon, dass ich mit dieser Geschichte tatsächlich etwas wieder gutmache, dass ich begriffen habe und das jetzt sogar öffentlich zugebe, und außerdem habe ich mich auch noch bei ihm entschuldigt und ihm zudem offenbart, dass alles nur ein Missverständnis war, dass ich eigentlich nur grundlos provozieren wollte und er doch wisse, wie das sei , schließlich sei er Pädagoge . Meine Läuterung ist also sein Verdienst.
Im Buch der Niedertracht hat er nicht gelesen.
«Einen Moment lang sahen wir uns an wie Fremde. ‚Es tut mir leid, wenn ich einigermaßen unhöflich zu Ihnen gewesen bin. Ich habe mich in den letzten Tagen sehr unwohl gefühlt und meine Contenance etwas verloren. In meinem Alter ist das keine Seltenheit. Entschuldigen Sie also bitte, wenn ich Sie nicht mit der gebührenden Höflichkeit empfangen oder behandelt habe’, sagte er dann sanft.
‚Kein Problem!’, antwortete ich. Er nickte freundlich und schloss die Tür. Ich dachte, wenn sich alle Menschen mit nur etwas mehr Empathie und Mitgefühl begegnen würden, würde das die Welt um so viel besser machen.»
Das wird schlecht, die Welt wird schlecht, sehr schlecht! , würde ich gerne brüllen und sie auslachen, ihnen ins Gesicht lachen , aber natürlich habe ich mich unter Kontrolle. So kurz vor dem Klimax darf ich mir keine Blöße geben. Ich sehe kurz auf, sehe, dass alle in einen Zustand der Lethargie verfallen sind. Ihnen ist alles egal, jetzt könntest du der Herde auch jederzeit einen neuen Führer andrehen, sie würden nur gelangweilt gähnen und nachher sagen, sie hätten von nichts gewusst.
«Einen Tag später brachte ich Herrn Keilmann das nächste Paket, und als er diesmal die Tür öffnete, hatte er sich sehr verändert. Auf den Stock war er nicht mehr angewiesen, er öffnete mir aufrecht gehend die Tür.
‚Ich habe sie schon erwartet !’, begrüßte er mich und klopfte mir auf die Schulter. Irritiert sah ich auf die Briefe in meiner Hand. ‚Kommen Sie doch bitte zuerst herein!’
Wie würde es in Herrn Keilmanns Privaträumen nur aussehen? Ich wusste nicht, was mich erwarten würde. Ich hatte keinerlei Vorstellung davon, wie er lebte. Mir fiel auf, dass ich ganz unwillkürlich das Alter mit unwürdigen Lebensumständen, mit dem Fehlen von Sauberkeit assoziierte.
Meine Zweifel waren jedoch völlig unberechtigt. Die Erzählung einer im gehobenen Alter stetig und allumfassend werdenden Verwahrlosung bewahrheitete sich glücklicherweise keineswegs. Herr Keilmann residierte nicht in einer unaufgeräumten, stinkenden Höhle, g anz im Gegenteil .
Die Diele, durch die ich ihm folgte, war nicht der Eingang zu einer nach Urin stinkenden Siechhöhle , sondern geräumig, hell und wirkte einladend. Ebenso hatte sich der unangenehme Geruch nach Bonbons und Zeitungspapier, der noch vor ein paar Tagen die Luft nahezu verpestet hatte, vollständig verflüchtigt. Rein gar nichts entsprach dem von den Massenmedien so oft kolportierten Klischee des alternden Cafard - v erschimmelte Essensreste und löchrige Baumwollunterhosen mit in den Fasern eingetrockneten Streifen waren schlichtweg nicht vorhanden.
Hier kann die voyeuristische Ader des auf Leidenskonsum jeder Art konditionierten Menschen nicht befriedigt werden, dachte ich ganz spontan. Hier, in dieser Wohnung, ist keine
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