Antiheld (German Edition)
Verwesung gegenwärtig. Hier ist nicht der Platz, an dem eine Realityshow aufgezeichnet werden könnte. Ich spürte, wie sich meine Stimmung aufhellte.
Herr Keilmann ging voraus. Meine Irritation war nicht nur der Wirkung, die seine penibel aufgeräumte Wohnung bei mir hinterlassen hatte, geschuldet. Vor allem war es mir unmöglich zu begreifen, wie Herr Keilmann, der vor ein paar Tagen noch ein Greis gewesen war, plötzlich vor Lebensbejahung und Vitalität strotzten konnte. Keine Spur mehr des kauzigen Ungemachs.
‚Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten? Legen Sie die Briefe doch einfach auf den Schreibtisch im Wohnzimmer!’, sagte er und verschwand in der Küche.
Das Wohnzimmer war ein großer, schlicht eingerichteter Raum. Ich legte die Briefe auf den Sekretär, direkt neben einen kleinen Stapel mit Büchern.
‚Lesen Sie ?’
Herr Keilmann warf mir einen neugierigen Blick zu.
‚Nicht regelmäßig, nein.’
Er lächelte und zeigte auf den Bücherstapel. ‚Konfuzianismus. Vornehmlich Xunzi . Keine einfache Kost, das kann ich Ihnen sagen!’
‚Ist das ihr Hobby ?’
‚Nein, Andor, das ist nicht mein Hobby. Ich bin Wissenschaftler, und zwar Wissenschaftler der Zeitgeschichte. Meine ureigenste Aufgabe besteht also darin, dort, wo sich Fakten, Fiktionen und Fälschungen wild zu mischen beginnen, nach der Wahrheit zu suchen, und zwar nicht nach der Wahrheit, die schlussendlich zu einem Faktum der offiziellen Geschichtsschreibung erklärt wird und somit zu einem honorigen Geschäft verkommt. Dort, wo mit historischen Tatsachen oder vielmehr den Verdrehungen historischer Tatsachen Geld verdient wird, viel Geld , dort ist und bleibt die Wahrheit eine nach Marktstrategien dosierte Zugabe, niemals die Prämisse.’
Er machte eine Pause und reichte mir eine Tasse Kaffee. Es ist die Konversation und Aufmerksamkeit, die ihm gefehlt hat, dachte ich. Das Alleinsein ist es, das jeden endgültig zermürbt.
‚Also, dann sind Sie sozusagen für das Controlling der Wahrheit zuständig?’, fragte ich ihn und stellte die Tasse ab. Er nickte und lächelte.
‚Sehen Sie’, sagte er, ‚die allermeisten Tabernakel, vor denen wir, und insbesondere die Jugend, also genaugenommen auch Sie , betet, sind leer. Die Dogmen, die ihre Erfinder uns täglich neu herpredigen, halten trotz ihrer oft fürchterlichen Lautstärke nicht der geringsten Kritik stand.
Für den Fall, dass jemand auf die Idee kommen sollte, Fragen zu stellen, zum Beispiel die Frage nach der Zulässigkeit von spezifischen Fakten oder die Frage nach der Stichhaltigkeit der vorgelegten empirischen Beweisführung – dem ehrwürdigen Wissenschaftler altbekannte, dem Pseudo-Wissenschaftler unangenehme Fragen –, für diesen Fall hat man flugs Gesetze erschaffen.
Nur durch die Winkeladvokatie einer korrupten Jurisprudenz können die sogenannten Ketzer , kritische Personen also, die den offiziell verkündeten Wahrheiten aufgrund ihres gesunden Menschenverstandes misstrauen, in Schach gehalten werden.’
Mir blieb nur übrig, ihn erstaunt anzustarren. ‚Ehrlich gesagt, kann ich Ihnen nicht ganz folgen. Ich verstehe nicht, was Sie meinen: Um welche Gesetze handelt es sich genau? Gibt es tatsächlich ein Gesetz, das eine bestimmte historische Wahrheit verbietet ?’
Er nickte und trank einen letzten Schluck Kaffee. ‚Allerdings!, antwortete er und holte tief Luft. Ich will das Pferd sozusagen von hinten aufzäumen und es Ihnen so erklären: Das heiligste Grundrecht der westlichen Demokratien ist, und das wird ja nun fast jeden Tag durch alle Medien hindurchrepetiert und als die große Errungenschaft gefeiert, die sie zweifelsohne ja auch ist, die freie Meinungsäußerung.
Ich denke, damit kann man nur einverstanden sein, oder etwa nicht? Die freie Meinungsäußerung ist de facto der unmittelbarste Ausdruck, zu dem eine menschliche Persönlichkeit fähig ist, und oft wird dieses Recht sogar als das vornehmste Menschenrecht überhaupt bezeichnet. Doch, was ist der eigentliche Inhalt dieses Rechts?
Ich will versuchen, es Ihnen so plausibel wie mir möglich ist zu erläutern: Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist zuallererst kein fiktiver Allgemeinplatz, kein konstruierter Jahrmarkt, auf dem mysteriöse Schausteller aus dem Nebel treten, um ihre schillernde Rhetorik und die buntesten Redewendungen zum Besten zu geben. Sie stammt demnach nicht aus dem Reich der Fantasterei, sondern ist vielmehr eine Notwendigkeit der echten Welt. Hier, in der spröden
Weitere Kostenlose Bücher