Antiheld (German Edition)
sich abgeseilt, als er elf Jahre alt war, und dann eigentlich nie wieder blicken lassen. Alle paar Monate ruft er durch, so wie heute. Dann verabreden sie sich in schäbigen Eiscafés, in denen als Italiener verkleidete Albaner bedienen und bereits in der Maschine verbrannten Kaffee servieren.
Finn sitzt immer wie angewurzelt auf dem Stuhl und hört seinem Vater zu, der erzählt, wie es in seinem Leben so läuft. Natürlich kümmert Finn das einen Dreck. Sein Vater ist wie ein Fremder für ihn und deswegen könnte er auch genauso gut einem Fremden dabei zu hören, wie der seine Lebensgeschichte rauskotzt. Das Einzige, das ihn interessiert, ist das Geld, das sein Vater ihm am Ende der Sitzung gibt. Meistens einen Hunderter. Der Fremde könnte in aller Seelenruhe verrecken. Es müsste nur jemanden geben, der ihm weiterhin die Kohle abdrückt.
Finn biegt in die Auffahrt zur Schule ab, umrundet die Sporthalle und bleibt an einem kleinen, mit Müll übersäten Platz stehen. Die Raucherecke. In all den Jahren ist er nur ein einziges Mal hier gewesen.
Im Grunde war es eine zutiefst logische Idee: Finn dachte, aufgrund seiner neu erworbenen Nikotinsucht könnte er sich einfach zu den anderen stellen, um zu rauchen, und vielleicht auf diese Art Freunde finden. In unerfreulichen Erinnerungen verloren nimmt er den Weg am Fahrradkäfig vorbei und bleibt vor dem Eingang der Schule stehen.
Wie sehr er sie doch hasst, die Schule und die Schrotflinten der Erwartung, die hier jeden Tag aufs Neue angelegt werden.
Auf den Treppen zu den Schülertoiletten windet sich heftig zuckend ein angefahrener Vogel. Finn muss sich nicht dazu überwinden, den letzten Augenblicken dieses Todeskampfes aus nächster Nähe beizuwohnen. Die geschwungenen Flügel mit den glänzend schwarzen Federn, die sich immer wieder unter großem Zittern zusammenfalten, und die starren, dunklen Tieraugen, die den nahenden Tod stoisch erwarten, faszinieren ihn so sehr, dass er stehen bleibt und zusieht, zusehen muss .
Die Welt verschwimmt zu einer breiigen Masse, in der nichts greifbar, nichts wahrnehmbar zu sein scheint. Scharf umrissen bleibt allein der Vogel. Kühler Wind bäumt sich auf, reinigt die Luft von unnützen Geräuschen und hinterlässt eine kristalline, fast absolute Stille.
Das Sterben bleibt, so oft wir es auch miterleben dürfen, verstörend und grotesk. Finn betrachtet den Vogel für eine lange Zeit. Das Tote ist und bleibt still. Er streichelt die mit Dreck verkrusteten Federn und fragt sich, ob es da draußen jemanden gibt, der diesen Vogel vermissen wird. Irgendjemanden, der ihn geliebt und nicht verachtet hat, so wie man ihn verachtet. Kennt die Natur überhaupt das Verlangen nach Liebe? Oder ist Liebe nichts weiter als eine notwendige Erfindung der Evolution, um die Menschen von den allgegenwärtigen Auflösungserscheinungen ihres Lebens abzulenken?
Jedenfalls ist niemand anwesend, der die jämmerlich verendete Existenz umgehend betrauert. Eine Wahrheit ist, dass die Toten noch vor der letzten Schaufel Erde, die ihren Sarg bedecken wird, dem großen und kollektiven Vergessen anheimfallen. Die Erinnerung an das Lebendige verlischt im Terror der sich ewig dahinwälzenden Geschichte rasch.
Er schließt die Augen und stellt sich vor, wie er eine Symbiose mit dem Tier eingeht, wie das Wesen durch seine Zellen diffundiert.
Flügel, die Werkzeuge seines eigenen Mythos; mit Flügeln wäre er dazu imstande, aus seinem alten in ein neues Leben zu fliegen. Davonfliegen , ohne Abschied zu nehmen. Doch das Wissen über die eigene Ohnmacht bewirkt nur die Rückkehr von Erinnerungen:
Er will keine Flügel mehr. Er will nicht mehr in einem neuen Wesen , einem hoffnungsvollen Ikarus aufgehen.
Er will so sein, wie der Vogel jetzt ist. Tot und vergessen. Noch nicht einmal vermisst . Einfach, als sei er nie da gewesen . Als habe er nie existiert, als sei er anorganische Materie, die nicht zum Leben erweckt wurde und es auch niemals werden wird. Er tritt auf den Vogel, bis nur noch ein Mus aus schwarzen Federn und zersplitterten Knochen übrig bleibt. Dann dreht er sich um und geht.
Das Zusammentreffen der Nähmaschine und
des Regenschirms auf einem Seziertisch
Seine Mutter sitzt mit dem Rücken zur Tür am Küchentisch. Sie nippt an einer Tasse Kaffee und zieht nervös an einer Eve. Ihr Blick schweift ins Leere. Finn bleibt schweigend im Türrahmen stehen und beobachtet sie.
«Mein Gott, Finn! Da bist du ja! Ich habe mir solche Sorgen gemacht!»,
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