Antiheld (German Edition)
einer langwierigen Versuchsreihe, in der sie mit humanistischen Bildungsidealen, die ihnen immer noch als absolute Gesetzmäßigkeiten gelten, regelrecht Völlerei an mir begangen haben. Sie haben mir mit Wissen das Maul gestopft, bis ich keine Fragen mehr stellen konnte.
In ihrem Wahn haben sie jedoch übersehen, dass ich schnell begriffen habe, dass Wissen nur eine Erfindung ist, um die Wahrheit zu verklären. Wissen ist eine Verschleierungstaktik für das Irrationale und Brutale. Denn nach Abzug all der süßen Geistesromantik, mit der man den beschämenden Versuch unternimmt, sich die Gattung doch noch zu einem hehren Wesen hinzufabulieren, bleibt nur ein blutbesudeltes Konvolut übrig, das von sogenannten Helden hastig im Schlachthaus der Weltgeschichte niedergeschrieben wurde.
Im Harnisch und mit glänzenden Gesichtern schreiten wir seit der Antike von Gemetzel zu Gemetzel, im Gepäck die neuesten Wahrheiten, unter unseren Stiefelmanschetten die Knochensplitter zertretener Schädel. Als unaufhörlicher Tross waten wir durch die Epochen hindurch bis in die Gegenwart. Mir bleibt nur die Flucht. In diesem wie in jedem anderen Leben werde ich mich immer wie ein Fremdkörper fühlen.
Nichts kann mich besänftigten, nichts trösten. Das Dasein ist ein tristes Loch, in dem sich nichts regt. Die pure Gewalt allein reißt mich aus der Lethargie und fügt die Splitter zu einem in sich schlüssigen Mosaik zusammen. Die Annihilation meines Gegenüber, das Ausradieren belebter Materie, die Macht, einen Menschen in einen Leichnam zu verwandeln – nur durch die Negation des Lebens an sich spüre ich das Leben. Vielleicht heißt dem Leben spotten, wahrhaftig leben.
Nadine hat mir vorhin eine SMS geschickt und mich zu einer Party am Wochenende eingeladen. Wahrscheinlich einer dieser beschissenen Versöhnungsversuche, bei denen man sich direkt vorkommen muss wie im Finale einer dieser biederen Feel-good- Streifens, die Hollywood für die Zerstreuung schlichter Gemüter produziert.
Ihre Eltern seien nicht da, also muss gefeiert werden, schreibt sie. Ein Pluspunkt, denn die selbstherrlichen Fratzen ihrer Erzeuger, diese Geisterbahnfiguren der Genetik, hätte ich sowieso nicht ertragen können.
Die völlig neurotische Mutter hat mich schon wie ihren zukünftigen Schwiegersohn behandelt, und das permanente Gefasel ihres Vaters über Politik und Burschenschaften konnte man auch nur mit größter Mühe ertragen.
Es bleiben letzte Reste eines Lebens, das für ihn mittlerweile in unerreichbare Ferne gerückt ist. Die alten Wichser können sich nie eingestehen, dass sie bereits über den Berg sind, und genau aus diesem Grund reden sie ständig über diesen kurzen Strang jugendlicher Euphorie. Was bleibt, sind Verklärungen eines Lebens, das sich bereits vor langer Zeit in der endlosen Monotonie einer ganz und gar jämmerlichen Existenz aufgelöst hat. Da ähneln sich alle, Väter und Mütter.
Im Grunde kann ich diesen Idioten ja nur auslachen, und selbst wenn mein Erzeuger zufällig die gleiche Universität besuchte und in derselben Verbindung wie er war, heißt das noch lange nicht, dass er mir mit seinen melancholischen Erinnerungen auf den Sack gehen muss. Sein widerlich scheinheiliges Blendaxgrinsen sagt mir, was ich über ihn wissen muss. Alles Heuchelei.
Ich mag sie immer noch, mehr, als ich zugeben möchte. Doch ihr Gesicht ist eine Vorstellung, die endgültig in der Vergangenheit zu liegen scheint. Ich sehe sie nie als sie selbst, ich sehe sie immer als eine Fotografie hinter einer Mauer aus Glas, als eine Erinnerung.
In dieser Erinnerung hat sie sich bereits entfremdet. Sie sieht nicht mehr aus, wie sie aussieht; ihre Haut hat eine anämische Blässe angenommen, die Augen wirken trübe und entzündet. Erschreckend vor allem, wenn ich diesen albtraumhaften Bildfetzen mit der echten Nadine vergleiche.
Jedes Wiedersehen ist ein tiefer Nadelstich, wahrscheinlich aus genau diesem Grund. Vielleicht ist es ihre unstillbare Lebenslust, die für mich so weit entfernt ist. Die Zärtlichkeit, die sie in jede Geste, jedes Wort legt. Ihre Fähigkeit zu überschäumender, naiver Liebe, die mich um so erschütterter zurücklässt.
Sie war und wird mir immer fern bleiben. Es ist, als würde sie einen Sicherheitsabstand zu mir halten, als wäre ich menschliches Gefahrengut und der Umgang mit mir nur in einer dekontaminierten Zone unbedenklich.
So muss sich die Liebe zu einem Leprakranken anfühlen.
Ravachol im Glashaus
Finn
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