Anton Pfeiffer und der Zauberkongress (German Edition)
betreten. Der Zauberer ließ sein Fer n rohr sinken und drehte sich zu ihnen. Er musterte sie. „Die Zeit ist eine Erfindung der Menschen. Nichts weiter. Sie benutzen sie, um ihr Leben zu ordnen. Ein völlig the o retisches Konstrukt. Nichts, was mit der Wirklichkeit zu tun hätte.“
Anton wusste nicht, was er sagen sollte. Für solche Weisheiten war er wohl nicht schlau genug.
Er deutete mit einer Hand nach oben. „Aber was ist mit dem Mond los? Der sieht heute unheimlich groß aus. Dabei ist er unendlich weit entfernt.“
Der Zauberer lächelte milde. „Weit entfernt? Das ist r e lativ. Längenmessungen hängen davon ab, wer sie vo r nimmt, mein Junge.“
Emma runzelte die Stirn. Offensichtlich schien sie es besser zu wissen. „Soweit ich weiß handelt es sich hier um eine optische Täuschung. Am Horizont sieht der Mond größer aus als sonst. Das ist eine Wahrnehmungsstörung, nichts weiter.“
Der Zauberer betrachtete Emma nachdenklich. Wen hatten wir denn hier.
Er lächelte. „So, so, eine Wahrnehmungsstörung. Nun, da muss ich dich enttäuschen, junge Dame. Das hier ist die Wirklichkeit. Und keine Wahrnehmungsstörung.“
Er hob wieder sein Fernrohr hoch. „Wenn ihr einen großen, schönen Mond am Himmel seht, dann ist das auch ein großer, schöner Mond. Ob er groß und schön ist, en t scheidet ihr selbst. Es gibt keine andere Wirklichkeit als die, die wir in uns tragen. Merkt euch das.“ Dann drehte er sich wieder um und hob das Fernrohr ans Auge.
Emma schien noch nicht überzeugt zu sein. „Aber was ist, wenn das, was man sieht, gar nicht real ist?“
Der Zauberer ließ das Fernrohr sinken und drehte sich zu ihnen. Seine Augen blickten gütig und hatten etwas ungemein Freundliches an sich. Aber irgendetwas Une r gründliches lag in ihnen. Etwas Ernstes, Tiefgründiges, und Anton konnte sich nicht recht erklären, was es war.
„Nicht real?“, wiederholte der Zauberer und betracht e te Emma nachdenklich, „die Wirklichkeit, mein Kind, ist weit mehr als die Realität.“ Er lächelte. „Genaugenommen ist sie sogar etwas ganz anderes.“
Emma schwieg betreten. Unauffällig beugte Anton sich ein Stückchen vor und betrachtete die pechschwarzen Pupillen des Zauberers. Wie auf einer Wasseroberfläche spiegelte sich das Mondlicht in ihnen. Die Regenboge n haut rund um die Pupillen war von einem satten Blau, das sich in feinen, geschwungenen Wellenlinien in alle Ric h tungen abzeichnete. Doch irgendwie schienen die Linien in Bewegung zu sein. Anton schaute genauer hin und staunte. Die Pupillen des Zauberers waren keine gewöhnlichen – es waren kleine, explodierende Sterne. Schwarze, sich au s dehnende Miniatur-Universen, schwirrende Galaxien im Augapfelformat . Und je genauer man hineinblickte, desto tiefer schien man darin zu versinken.
Unwillkürlich zuckte Anton zusammen. Dann schaute er den Professor mit großen Augen an.
„Na, mein Junge, was siehst du?“ fragte der Zauberer. Anton schwieg.
„Die Schöpfung kann zuweilen überfordern. Gerade einen ungeschulten Geist“, sagte der Zauberer milde.
„Die Schöpfung?“ Anton sah ihn verständnislos an.
„Ja freilich. Die Schöpfung. Im Kleinen wohnt das Große, und im Großen das Kleine. Ein Universum voller Möglichkeiten.“ Der Zauberer lächelte verschmitzt und zwinkerte Anton zu. „Phänomenal, findest du nicht? G e rade für die Jugend.“
Dann zog er aus seiner Manteltasche ein kleines, graues Seidentuch und begann, damit die Oberfläche seines Fer n rohrs zu putzen. Nachdem das erledigt war, drehte er sich wieder zur Balkonbalustrade und schaute in die Ferne.
In diesem Moment ertönte ein feines Klingeln. Anton, Oskar und Emma schauten sich um. Inzwischen waren sie nicht mehr die einzigen. Zahlreiche Kongressgäste flanie r ten auf dem Balkon umher.
Das Klingeln kam von einem Pagen, der vor der Ba l kontür mit einer Glocke in der Hand stand. In der anderen hielt er eine Papierrolle. Er räusperte sich. „Hoch verehrtes Kongress-Publikum. Ich freue mich, Ihnen den Höh e punkt des heutigen Abends zu präsentieren. Es ist uns eine Ehre, den allseits bekannten und hoch geschätzten Profe s sor Julius Rofius unter uns zu begrüßen.“
Die umher stehenden Kongress-Gäste fingen an zu klatschen. Alle schauten zum Balkongeländer.
Der Applaus galt dem Zauberer mit dem Fernglas, der ein Stückchen entfernt neben Anton, Oskar und Emma stand.
„Professor Rofius hat für heute Abend etwas ganz B e sonderes
Weitere Kostenlose Bücher