Antonias Wille
schwindlig wurde. Wo führte das hin?
»Bisher musste ich von allen Menschen, die mir lieb und teuer waren, Abschied nehmen. Von meiner Mutter, meinem Ehemann, meinem Sohn â¦Â« Sie wandte ihren Blick ab, damit er ihren Schmerz nicht sehen konnte. »Irgendwann traut man sich einfach nicht mehr, an das eigene, private Glück zu glauben. Dafür habe ich jetzt das âºKuckucksnestâ¹. Es ist leichter, von vornherein zu wissen, dass alle, die zu mir kommen, auch wieder gehen werden.« So wie du, schoss es ihr durch den Kopf. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte losgeheult. Eine tiefe Sehnsucht, von der sie nicht mehr gewusst hatte, dass sie in ihr schlummerte, war erwacht. Rosanna lächelte traurig. »Vielleicht gebe ich deshalb eine so gute Wirtin ab.« Verlegen rupfte sie ein Breitwegerichblatt ab und zerpflückte es. Der Saft tropfte kühl und weiÃlich von ihren Fingern. Ãrgerlich wischte sie sich die Hände an ihrem Rock sauber.
»Ach, was rede ich für einen Blödsinn! Das hört sich an, als wäre ich todunglücklich! Das bin ich aber nicht. AuÃerdem liegt die Last ja nicht allein auf meinen Schultern â ich habe ja auchnoch Simone ⦠Ein anderes Leben ist mir halt nicht bestimmt!«, setzte sie nachdrücklich hinzu.
Fahrners Augen ruhten noch immer auf ihr, und als ein Schmetterling zwischen ihnen vorbeiflog, scheuchte er ihn sanft weg.
»Wie können Sie so etwas sagen! Bitte, Rosanna, stoÃen Sie mich nicht zurück. Das Schicksal ⦠Es muss sich nicht immer wiederholen! Ich möchte für Sie da sein. Ich â¦Â« Er verstummte und beugte sich näher zu ihr.
»Ja?«, hauchte Rosanna. Sein Gesicht war so nahe, dass sie die nachwachsenden Barthaare erkennen konnte.
»Ich ⦠habe noch nie eine Frau wie Sie kennen gelernt. Sie haben mir den Kopf verdreht. Haben mein Herz gestohlen. Ich ⦠ich glaube, ich habe mich unsterblich in Sie verliebt â¦Â«
Er zog Rosanna zu sich heran und küsste sie sanft erst auf das rechte, dann auf das linke Augenlid.
Wie weich waren seine Lippen! Und zart wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Rosanna hielt noch immer den Atem an, ohne es zu merken. Ein leichter Schwindel befiel sie, reglos saà sie da, in Erwartung dessen, was jetzt kommen würde.
Und als sich sein Mund dem ihren näherte, fiel Rosanna zum ersten Mal in ihrem Leben in Ohnmacht.
2. Juli 1919
Es ist etwas ganz Schreckliches geschehen: Ich bin verliebt! Ach, es ist so furchtbar schön, so aufregend, so beängstigend! Ich habe Mühe, die Feder auf dem Papier zu halten, so zittrig sind meine Hände, wenn ich nur an IHN denke!
Warum musste mir das in meinem Alter noch passieren? Nie im Leben hätte ich damit gerechnet. Oder es darauf angelegt! Natürlich gab es auch in der Vergangenheit manchmal den einen oder anderen Gast, der mir hätte gefallen können. Aber ich war jedes Mal schlau genug, mich von diesem Menschen fern zu halten. Ich wusste schlieÃlich, dass er mich wieder verlassen würde. Warum sollte ich mir da das Herz schwer machen? Und plötzlich kommt dieser eine daher, und ich vergesse alle meine guten Vorsätze, und nichts ist mehr so, wie es war! Ich schwebe wie auf einer Wolke, um im nächsten Moment wieder unsanft auf dem Boden der Tatsachen zu landen. Und diese Tatsachen sehen so aus: Helmut ist ständig unterwegs mit seinen vielen Kommissionen, und ich bin hier oben gebunden. Wie soll das mit uns beiden gehen? Uns trennen Welten. Aber Helmut ist tatsächlich zuversichtlich. Er werde schon Mittel und Wege finden, sagt er.
Ich fühle mich diesem Mann nahe wie keinem zuvor. Manchmal kommt es mir vor, als könne er Gedanken lesen. Oder in mein Innerstes schauen. Dann sagt er etwas, was ich im Grunde genommen schon lange weiÃ, aber nicht wahrhaben will, und damit bringt er mich jedes Mal aus der Fassung. Ich habe ihm sogar von Bubi erzählt. Davon, dass ich mich noch immer schuldig fühle an seinem Tod. Hätte ich nicht die elenden Ziegen angeschafft, wäre mir mehr Zeit geblieben, auf ihn aufzupassen. Beim Erzählen habe ich bitterlich geweint. Dabei kann ich mich nicht erinnern, wann ich überhaupt das letzte Mal geweint habe. Ich rechnete damit, dass Helmut etwas in der Art erwidern würde wie: »So ein Unglück kann jedem passieren, zu jeder Zeit.« Aber er hat mich nur in den Arm
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