Antonias Wille
wirklich sein? Aber ja doch, ja!
Was würde Helmut bloà dazu sagen? Sollte sie es ihm überhaupt schon erzählen, oder sollte sie noch ein wenig warten, bis sie Gewissheit hatte?
»Gewissheit? Wem willst du etwas vormachen, Weib?«, murmelte sie vor sich hin. Warum nur hatte sie die Wahrheit so lange nicht erkannt? Oder hatte sie tief im Innern längst gespürt, dass sie â
Entsetzt starrte sie auf den Teller vor sich. Vor lauter Aufregung hatte sie den ganzen Kuchen vertilgt! Und Helmut wartete oben wahrscheinlich schon halb verhungert darauf, dass sie zurückkam.
Abrupt stand Rosanna auf und ging zur Anrichte, um noch ein paar Stücke Kuchen abzuschneiden. Doch auÃer dem LaibBrot, den sie zuvor aus dem Schrank geholt hatte, war nichts zu sehen. Stirnrunzelnd schaute sie in den Brotschrank â nichts. Offenbar waren die Stücke auf dem Teller die letzten von Helmuts Geburtstagskuchen gewesen â¦
Rosanna fuhr sich mit der Zunge über die Zähne, wo noch ein paar Krümel klebten. Eigentlich war der Kuchen ziemlich trocken gewesen, Helmut hatte also nicht viel verpasst. Sie kicherte in sich hinein.
Sie ignorierte ihren Durst und zog sich stattdessen einen Hocker heran. Während sie in den Keksdosen auf dem Schrank nach etwas SüÃem suchte, schoss ihr ein weiterer Gedanke durch den Sinn. Sie würden sich mit der Hochzeit sputen müssen! Sonst stand sie am Ende mit vierzig Jahren genauso da wie mit zwanzig: als ledige Mutter.
Eine unbändige Freude nahm von ihr Besitz. Auch Helmut würde sich auf das Kind freuen, so viel war gewiss. Nein, die Geschichte würde sich nicht wiederholen. Mit zittrigen Fingern versuchte Rosanna, den Deckel der Keksdose, der sich verklemmt hatte, aufzubekommen.
Am besten erzählte sie Helmut gleich von ihrem Verdacht. Er hatte schlieÃlich ein Recht darauf, zu erfahren, dass er nicht nur heiraten, sondern schon bald eine Familie gründen würde.
Und dabei kenne ich seine Familie noch nicht einmal, sinnierte Rosanna weiter. Er erzählte wenig von zu Hause. Ein paar Geschwister gab es in Furtwangen noch. Nun, man würde sehen â¦
Die ersten beiden Dosen waren leer, erst in der dritten wurde Rosanna fündig. Schmunzelnd legte sie eine Hand voll Nusskekse auf den Teller. Sie musste Maria bitten, am nächsten Backtag auch Kleingebäck auf ihre Liste zu schreiben â bei der gestiegenen Nachfrage reichte es nicht mehr aus, nur einmal im Monat Kekse zu backen.
Rosanna löschte das Licht und machte sich auf den Weg nach oben.
25. Oktober 1919, kurz vor Mitternacht
⦠Ich bin noch nie so glücklich gewesen.
31. Oktober 2000
Julie schrie auf, als hätte ihr jemand einen Schlag ins Genick verpasst.
»Nein! Das glaub ich einfach nicht! Das kann nicht sein â¦Â«
Fassungslos blätterte sie zurück, starrte auf die eng beschriebenen Seiten mit Rosannas geschwungener Schrift, wo jeder Buchstabe vor Lebensfreude schier zu platzen schien. Die Bäuche der Bâs und Gâs blähten sich wie Luftballons, die Brücken der Mâs und Nâs waren weit gespannt, so als könne die Schreiberin es kaum erwarten, zum nächsten Wort, zum nächsten Satz zu kommen.
Julie presste die Lider zusammen, atmete einmal tief durch, und als sie die Augen wieder öffnete, hoffte sie auf ein Wunder.
Doch die weiteren Seiten des Tagebuches blieben jungfräulich weiàâ Rosanna war also gestorben, bevor ihre beschwingte Schrift sie hätte füllen können.
Ich bin noch nie so glücklich gewesen  â das war tatsächlich Rosannas letzte Tagebucheintragung, geschrieben in jener Nacht, als Helmut ihr den Heiratsantrag gemacht hatte. Als sie von ihrer nächtlichen Naschtour in die Küche wieder ins Zimmer gekommen war, schlief Helmut »eingerollt wie eine Katze am Kamin« , hatte Rosanna geschrieben. Statt sich zu ihm zu legen, hatte sie sich nochmals hingesetzt und ihrem Tagebuch die Vermutung anvertraut, dass sie schwanger war. Dann folgte jener letzte Satz.
Ich bin noch nie so glücklich gewesen.
Das durfte einfach nicht wahr sein!
Wie gelähmt saà Julie da.
Rosannas letzte Tagebucheintragung stammte vom 25. Oktober 1919. Nur einen Tag später, am 26., war sie gestorben, das stand in den Zeitungsberichten, die Julie mit zitternden Händen zwischen den Fotoalben und den Tagebüchern hervorkramte, um sich des Datums
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