Antonias Wille
jedoch schon nach der ersten Tasse auf den Magen schlug.
Einer spontanen Eingebung folgend, war Julie vor ein paar Tagen hinunter ins Dorf und auf den Friedhof gelaufen. Jede Reihe hatte sie nach Rosannas Grab abgesucht, hatte herabgefallenes Laub von Grabsteinen und Kreuzen gewischt, doch vergeblich. Der Friedhofsverwalter hatte sie schlieÃlich aufgeklärt, dass Gräber, die nicht für alle Ewigkeit gekauft waren, nach fünfundzwanzig, manchmal auch erst nach dreiÃig Jahren neu belegt wurden.
Fünfundzwanzig Jahre mussten also reichen, um eine Seele vom Hier und Jetzt ins nächste Leben zu schicken. Und wenn bei einer Seele die Zeit nicht reichte? Wenn das Grab neu belegt wurde und der Körper zwar verwest, die Seele aber noch nicht zur Ruhe gekommen war?
Julie erschauerte. Ihr Blick wanderte durch die Eingangshalle des »Kuckucksnests«. Nein, hier waren keine Geister. Ein Mosaik aus Licht und Schatten, nicht anders als an jedem Abend. Und doch kam es Julie so vor, als seien die Konturen der einzelnen Schatten deutlicher als sonst zu sehen, so scharf wie die eines Scherenschnittes.
Auch die Geräusche des Hauses, die Julie normalerweise nur noch im Unterbewusstsein wahrnahm, hatte sie an diesem Abendwieder deutlich in den Ohren: das Knacken von Holz, das leise Stöhnen des Windes, der unter das Vordach wehte, der Atem â¦
»Du spinnst ja langsam!«, sagte Julie laut.
Plötzlich fiel ihr Jan Bogner ein. Was würde der Privatdetektiv wohl dazu sagen, dass ihre Recherchen sie in eine Sackgasse geführt hatten? Und Antonia? Vielleicht konnte die ihr helfen. Andererseits wusste sie vermutlich am allerwenigsten, was sich zwischen ihren Eltern abgespielt hatte. Wahrscheinlich ahnte sie nicht einmal, dass Helmut zuerst Rosannas Liebhaber gewesen war.
AuÃerdem hatte Antonia bestimmt genug damit zu tun, ihre Sachen für die Kur in Bad Wildbad zu packen, wohin sie am nächsten Tag aufbrechen wollte. Sechs Wochen Aufenthalt waren vorgesehen, was bedeutete, dass sie erst Mitte Dezember wieder in Rombach sein würde. Es ging Antonia gut. Besser, als es die Ãrzte oder sie selbst für möglich gehalten hatten. Julie hatte ihr vorgeschlagen, sie in Wildbad zu besuchen und ihr dann den Schlüssel fürs »Kuckucksnest« zurückzugeben, doch Antonia hatte abgewinkt.
»Behalten Sie ihn!«, hatte sie gesagt â ohne einen Termin zu nennen, bis wann.
Es war ausgemacht, dass sie sich zum Jahreswechsel treffen würden. Dann wollte Julie berichten, was sie herausgefunden hatte. Sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass Antonia daran nicht mehr so viel lag wie zu Beginn des Unterfangens. Fürchtete sie Julies Erkenntnisse? Oder hatte sie einfach nur das Interesse verloren?
»Welche Erkenntnisse?«, spottete Julie laut. Das Gefühl, versagt zu haben, war ihr zuwider! Doch jammern half nichts. Sie musste etwas tun â oder es zumindest versuchen.
Spontan ergriff sie das Handy und tippte die Nummer ihrer Eltern ein.
Vielleicht hatte Theo ja Recht, und ihr Vater wusste etwas.
Sie hatte Glück, und ihr Vater nahm beim ersten Klingeln ab.
»Unser Sherlock Holmes meldet sich auch wieder einmal â wie schön!«, sagte er zur BegrüÃung.
Julie entschuldigte sich wortreich dafür, nicht schon früher einmal angerufen zu haben.
Auf seine Frage, ob sie mit diesen »Memoiren« etwa schon fertig sei, antwortete sie, dass sie mit ihrer Arbeit gut vorankäme. Dass sie vor lauter Frustration beinahe aus der Haut fuhr, erwähnte sie lieber nicht.
»Hast du deinen Onkel Helmut eigentlich jemals kennen gelernt?«, fragte sie schlieÃlich so beiläufig wie möglich.
»Onkel Helmut? Nein. Genauso wenig wie seine Frau, diese Simone.«
Julies Hoffnung schwand.
»Nicht einmal zu Helmuts Beerdigung ist sie gekommen! Und auch ihre Tochter nicht. Dabei hat unsere Familie die beiden sehr wohl über seinen Tod informiert. Entweder interessierte sie das nicht â oder die Nachricht kam nie an, es war ja schlieÃlich Krieg.«
»Helmut Fahrner starb im Zweiten Weltkrieg? War er nicht viel zu alt, um Soldat zu werden? AuÃerdem hatte er doch schon aus dem ersten Krieg eine Behinderung!« Julie runzelte die Stirn.
»Ich hab nicht gesagt, dass er gefallen ist«, erwiderte ihr Vater. »Aber erwischt hat es ihn trotzdem, und zwar bei einem Bombenangriff. Helmut war zu jener Zeit in
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