Antonias Wille
den sie mit verbundenen Augen wiedergefunden hätte, war das Räucherstübchen mit seinem verführerischen Duft. Beim Gedanken an die rohen Würste und Schinkenstücke, die dort in Reih und Glied an der Decke hingen, meldete sich ihr Magen erneut. Obwohl Rosanna es vor Hunger kaum noch aushielt, löste sie ihre Haare und begann sie notdürftig mit den Fingern zu kämmen. In der Spiegelscherbe, die über demWaschtrog an der Hauswand hing, glänzte ihr Haar in einem honigfarbenen Goldton. Hastig flocht sie einen ordentlichen Zopf. Sie habe das Haar einer Prinzessin, hatte Mutter immer zu ihr gesagt. »Einer Kohleprinzessin vielleicht!«, erwiderte sie dann stets und hielt dabei ihr mit Ruà verschmiertes Kleid hoch. Ach Mutter â¦
Bei dem Gedanken, mit völlig fremden Menschen an einem Tisch sitzen zu müssen, wurde Rosanna nervös. Was, wenn die Wirtsleute etwas an den Broten auszusetzen hatten, die Anton bereits in die Küche getragen hatte? Zacharias und Anton waren ja recht freundlich, aber was, wenn deren Schwestern sie nicht leiden konnten? Womöglich machten sie sich über Rosanna lustig! Und die alten Breuers hatten auch nicht gerade sehr freundlich dreingeschaut, als Zacharias Rosanna durch die gute Stube führte.
Sie zog in der Spiegelscherbe eine Grimasse. In der Schweiz würde es vor Menschen sicher nur so wimmeln. Je früher sie sich also daran gewöhnte, unter Leuten zu sein, desto besser! Die Zeiten, in denen sie nur die Tiere im Wald als Gesprächspartner gehabt hatte, waren ein für allemal vorbei.
»Wenn ihr den Knall gehört hättet, den diese, diese ⦠Turbine von sich gab, als sie zum Laufen kam! Eine Höllenmaschine ist das!« Theatralisch warf Katharina beide Arme in die Höhe. »Diesmal ist mir vor Schreck nur der Wassereimer aus der Hand gefallen, aber das nächste Mal bleibt mir womöglich das Herz stehen!« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, ich will da nicht mehr hin!«
»So schnell geht das nicht, Schwesterherz«, sagte Zacharias spöttisch und nahm sich noch einen Brotzopf aus der hölzernen Schale, die in der Tischmitte stand. »Die sind wirklich gut«, fuhr er fort und lächelte dabei Rosanna an.
Rosanna lächelte schüchtern zurück. Dass sie aus dem letzten Rest Teig keinen Laib geformt, sondern kleine Zöpfchen geflochten hatte, war kurz Anlass für einen Aufruhr gewesen. Wersie das geheiÃen habe, hatte Franziska Breuer Rosanna angefahren. Niemand, hauchte sie, und dass sie das zu Hause immer so gemacht habe. Gustav, der die Brotzöpfe ebenfalls skeptisch beäugt hatte, langte als Erster zu und sagte gleich darauf, sie würden ausgezeichnet schmecken. »Aber bring die nachher nur ja nicht ins Wirtshaus! Sonst wollen am Ende alle nur noch dieses verschnörkelte Brot haben!« Damit war die Sache vom Tisch gewesen.
»Du hast gut reden, du warst ja nicht dabei!« Katharina funkelte ihren Bruder wütend an. Dass die anderen nicht ernst nahmen, was sie erlebt hatte, passte ihr ganz und gar nicht.
»Ãberhaupt, warum kann denn nicht einmal jemand anders auf den Moritzhof gehen? Ich binâs leid, mich beschimpfen zu lassen!« Vorwurfsvoll schaute sie in die Runde. Als niemand etwas erwiderte, fuhr sie fort: »Wisst ihr, was er zu mir gesagt hat, als ich mich verabschiedete? âºIm Mai wird den Menschen noch einmal für kurze Zeit das Paradies geöffnet â also guck nicht so, als ob dich die Flöhe beiÃen, Kathi!â¹ Was meint er damit? Als ob ich mich nicht waschen würde!«
»So spricht man aber nicht von seinem GroÃvater!« Die alte Frau Breuer warf ihrer Schwiegertochter einen vorwurfsvollen Blick zu. »Das hätte es zu unserer Zeit nicht gegeben. Franziska, du hast das Mädchen schlecht erzogen!«
Franziska ignorierte ihre Schwiegermutter. »Und wie stellt sich das gnädige Fräulein die Sache vor? Soll ich zukünftig die Jungen zum Putzen zum Vater hochschicken?«, erwiderte sie stattdessen streng. »Noch so eine Idee, und es setzt was!«
Gebannt hatte Rosanna dem Tischgespräch gelauscht. Doch nun, da es womöglich für Katharina eine Ohrfeige von der Mutter hagelte, versuchte sie, sich so klein wie möglich zu machen.
Franziskas Ãrger schien jedoch ebenso schnell verraucht zu sein, wie er gekommen war.
»Ach Kathi, du kennst doch den GroÃvater«, sagte
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