Antonias Wille
haben.
Simones Anblick erinnerte sie an eine andere Begegnung mit einem ähnlich unansehnlichen Menschen. Es lag schon ein paar Jahre zurück. Ein Zirkus hatte sich im Wald verirrt und über Nacht sein Lager in der Nähe der Köhlerei aufgeschlagen. Als Rosanna ins Gebüsch ging, um ihr Geschäft zu verrichten, starrten ihr auf einmal zwei Augen entgegen. Die Iris hob sich kaum von dem trüben Weià ab, das von fast durchsichtigen Wimpern umkränzt war. Eine junge Frau. Bleich und hohlwangig. Das Gesicht voller Narben und Furchen. Auch sie war erschrocken, und ein schriller Schrei drang aus ihrem schiefen Mund. Im nächsten Moment kam eine ältere Frau angerannt.
»Nicht erschrecken!«, hatte sie Rosanna zugerufen. »Lili ist völlig harmlos. Sie tritt bei uns als Pockenfrau auf!« Dann hatte sie gelacht und hinzugefügt: »Du hast Glück gehabt! Andere müssen dafür bezahlen, wenn sie Lili sehen wollen.«
Rosanna linste erneut in Simones Richtung. Diese Lili hätte Simones Schwester sein können: Auch das Gesicht der jüngsten Breuer-Tochter war durch Unebenheiten, Pusteln und Flecken entstellt. Die schmalen Lippen waren blutleer, der linke Mundwinkel hing ein wenig nach unten. Simones Augen hatten nichts Kindliches, sondern blickten starr in die Runde. Zu allem Ãbel hatte der liebe Gott ihr auÃerdem derart krause Haare beschieden, dass man sicherlich Mühe hatte, mit der Bürste durchzukommen.
Unwillkürlich wanderte Rosannas Blick hinüber zu Katharina mit den schönen dunkelbraunen Haaren, die gerade mit anmutigen Gesten von einer Frau im Dorf erzählte, die am Nachmittag einen glühenden Kochtopf aus dem Fenster geworfen hatte.
Rosanna wurde jäh aus ihren Betrachtungen gerissen, als Franziska mit der flachen Hand auf den Tisch schlug.
»So, genug geschwatzt! Zacharias, Anton â ihr geht hinüber ins Wirtshaus! Katharina, du hilfst mir in der Küche. Und Simone â du gehst mit deinen GroÃeltern in die Stube und schneidest ihnen die Zehennägel! Die sind bestimmt schon wieder eingewachsen. Und die Hornhaut gehört auch abgehobelt.«
Zum ersten Mal an diesem Abend meldete sich Gustavs Vater zu Wort.
»Muss das sein?« Seine Stimme war brüchig und erinnerte Rosanna an ein Reibeisen. Sie passte überhaupt nicht zu seinem robusten Aussehen. Er lieà seine Pfeife sinken und schaute Franziska fast flehentlich an. »Beim letzten Mal hat Simone mich so geschnitten, dass sich alles entzündet hat. Und Margot ist sie mit dem Hobel ins Fleisch gefahren. Vielleicht kann Kathi â¦Â«
»Ich?« Erschrocken schaute Kathi von den GroÃeltern zu ihrer Mutter. »Warum soll â«
»Nichts da, Kathi muss die Gäste bedienen!«, fuhr Franziska dazwischen. Sie fixierte erst ihren Schwiegervater mit einem strengen Blick, dann packte sie Simone hart im Genick. »Ich glaube, du stellst dich absichtlich so dumm an! Aber wenn du denkst, dass du damit durchkommst, hast du dich getäuscht! Wenn deine GroÃeltern heute noch einmal Grund zur Klage haben, dann gnade dir Gott! Dann nehme ich die Schere und schneide dir einen Zeh ab!« Abrupt lieà sie Simone los, die das Ganze ohne die Miene zu verziehen über sich hatte ergehen lassen. Die Wirtin warf einen strengen Blick in die Runde. »Und jetzt will ich nichts mehr hören! Als ob ich nichts anderes zu tun hätte!«
Wie auf Kommando erhoben sich alle. Auch Rosanna stand auf. Sie sammelte die Löffel ein, nahm den leeren Kartoffeltopf und folgte Franziska in die Küche. Obwohl sie sich vor lauter Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten konnte, traute sie sich nicht zu fragen, wo ihr Nachtlager war. Stattdessen sagte sie: »Wenn alle zu tun haben ⦠Vielleicht kann ich mich noch ein bisschen in der Küche nützlich machen?«
Bis ich an jenem Tag schlieÃlich im Bett lag, vergingen noch einige Stunden. Als ich mit Franziska das Essen für die Wirtshausgäste richtete, Geschirr in dem riesigen Becken wusch und Kartoffeln für die Morgenmahlzeit schälte, war meine Müdigkeit wie weggeblasen. Es machte mir SpaÃ, Hand in Hand mit den anderen zu schaffen. Erst als der letzte Gast gegangen und das letzte Bierglas gespült war, fiel Franziska ein, dass ich ja auch für die Nacht unterkommen musste. »Du kannst bei Simone im Bett schlafen«, bestimmte sie, und damit war die Sache
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