Antonias Wille
ihr, dass das nicht möglich sei, mein Fortgehen jedoch nicht bedeuten müsse, dass wir uns nie wiedersahen. Ganz im Gegenteil: Wenn sie es einrichten könnte, dass fortan sie die wöchentlichen Besuche beim GroÃvater übernahm, hätten wir jede Woche einen ganzen Tag für uns! Der Gedanke munterte sie auf, sodass sie mir versprach, ihren Eltern nicht zu verraten, wo ich Unterschlupf gefunden hatte.
Am nächsten Morgen ging ich in den Stall, fütterte die Pferde der Gäste, molk die Kühe und verabschiedete mich von jeder einzelnen, indem ich ihnen eine Extraportion Heu einstreute. Bei Elsa angekommen, standen mir die Tränen in den Augen. Dann packte ich meine Sachen.
Mit dem Bündel in der Hand marschierte ich in die Küche, wo die anderen bereits zur Morgenmahlzeit zu Tische saÃen. Ich schaute Zacharias für einen langen Moment an. Ich weiÃ, es ist albern, aber ich hoffte noch immer, dass er sich gegen seine Eltern und für mich entscheiden würde. Doch er erwiderte meinen Blick nicht. Also trat ich vor Franziska und sagte ihr, dass ich mich nun doch für die erste Möglichkeit, die sie genannt hatte, entschieden habe. Zuerst wusste sie gar nicht, was ich meinte. Aber dann dämmerte es ihr. Sie schaute drein, als würde sie die Welt nicht mehr verstehen. Bevor einer einen Ton sagen oder mich mit Fragen bombardieren konnte, verlieà ich den Raum. Das war am Tag des heiligen Nikolaus â¦
Zwei Wochen vor Weihnachten war die Kirche noch voller als sonst. In der Reihe, wo Simone saÃ, hockten die Menschen so eng, dass sich ihre Schultern berührten. Es roch nach nassen Mänteln, nach Krankheit â in jeder Reihe hustete und schniefte jemand â und nach Weihrauch. Simone hatte Mühe, sich auf die Worte des Pfarrers zu konzentrieren. Das lag nicht allein an dem spitzen Ellenbogen ihrer Mutter, der sich in ihre Seite bohrte, sondern vor allem an dem groÃen schwarzen Loch, das an der Stelle klaffte, wo einst ihr Herz gesessen hatte.
Rosanna war weg.
Ihr Engel hatte sie verlassen.
Fünf Tage waren seitdem vergangen. Die Sonne hatte sich verzogen, und Simone schien es, als würde sie nie wieder aufgehen.
Sie hatte sich noch nie in ihrem Leben so allein gefühlt.
Der Pfarrer predigte gerade von Samenkörnern, die auf dornige Böden fielen. Von Worten, die ungehört in die Lüfte aufstiegen.
»⦠weil die Hausleute kein wachsames Auge auf ihre Dienstboten haben. Da wird ihnen erlaubt, sich herumzutreiben, auf den Tanzboden zu gehen, nächtens durch Feld und Wald zu strolchen und heimliche Bekanntschaften zu unterhalten. Und warum? Weil die Erntezeit vor der Tür steht oder eine Hochzeit oder sonst eine Arbeit, bei der man die Magd und den Knecht braucht. Da drückt der Hausherr lieber ein Auge zu, als dass er sagt: So etwas gibtâs bei mir nicht! Weil er nicht riskieren will, dass der Knecht seinen Hut packt und vor seiner Zeit geht. Aber Unzucht ist die gröÃte Sünde! Und es versündigt sich auch der, der ihr Vorschub leistet!« Die krächzende Stimme wurde mit jedem Wort lauter.
Simone zog die Luft zwischen den Zähnen ein. Sie hatte es ja gewusst!
Gott hatte alles gesehen und dann dem Pfarrer davon erzählt. Jeden Kuss zwischen Rosanna und Zacharias, jede Berührung ⦠Gott hatte einfach alles beobachtet. Es musste so sein âwarum sonst sollte der Pfarrer ausgerechnet heute über diese Sünde sprechen? Ihre Kehle war auf einmal wie zugeschnürt.
Erregt setzte sie sich aufrechter hin und lauschte den nächsten Worten des Pfarrers.
»Aber es sind nicht nur Bauern mit ihren Knechten und Mägden, bei denen meine Worte ungehört verfliegen. Es sind auch die Eltern, die ihren Söhnen und Töchtern die Gelegenheit zur Unzucht geben, obwohl es in ihren Kräften stünde, die Jungen davor zu bewahren.«
Simone spürte, wie sich ihre Mutter neben ihr versteifte. Ja, sollte sie sich nur recht unwohl fühlen! Die Mutter trug mindestens ebenso viel Schuld daran wie Zacharias, dass Rosanna nicht mehr bei ihnen war. Hätte sie besser aufgepasst ⦠Der Hass kochte in Simone hoch wie eine dicke Suppe. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte der Mutter den Ellenbogen so hart in die Rippen gestoÃen, dass ihr die Luft weggeblieben wäre. Doch dann besann sie sich.
Denn Gott hatte alles gesehen. Und der Zorn Gottes war denen gewiss, die
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