Anubis 02 - Horus
und sie fügte kopfschüttelnd und mit einem Lachen hinzu: »Nein, das war natürlich ein Scherz. Die Wahrheit ist, dass ich Mrs Walsh und Sie nicht wecken wollte. Ich war nicht sicher, ob Sie schon schlafen, aber dafür umso sicherer, dass Sie sich Sorgen machen würden, wenn Sie hören, dass ich noch einmal weggehe.«
»Womit Sie vollkommen recht haben«, bestätigte Maistowe. »Warum nehmen Sie meine Hilfe nicht an, Bast? Ich weiß, dass ich Ihnen in vielerlei Hinsicht eher lästig als von Nutzen bin, aber glauben Sie mir, ich kenne mich hier einigermaßen aus, und ich kann Ihnen sicher helfen, Ihre Schwester zu finden.«
Bast resignierte. Er hatte ja recht. »Und was genau schlagen Sie vor?«, fragte sie.
»Es gibt jemanden, der vielleicht wissen könnte, wo sie sich aufhält. Und wie es der Zufall will, ist er mir noch einen Gefallen schuldig.«
»Wie es der Zufall will.«
»In der Tat.« Maistowe hob die Schultern und ging langsam weiter. »Ich bin allerdings nicht sicher, ob es nicht bereits zu spät ist. Selbst hier haben die meisten Lokale inzwischen geschlossen, und …« Er unterbrach sich, wusste für einen kurzen Moment anscheinend nicht wohin mit seinem Blick und deutete dann zurück in die Richtung, aus der sie gerade erst gekommen waren. »Vielleicht wäre es besser, wenn Sie hier warten, während ich mit meinem … ähm … Kontaktmann rede«, sagte er zögernd. »Ich bin sicher, dass Inspektor Abberline sich Ihrer annehmen wird.«
Bast verzichtete darauf, überhaupt etwas dazu zu sagen; zum Beispiel, dass Abberline im Moment ganz gewiss Besseres zu tun hatte, als das Kindermädchen für sie zu spielen. Er würde sie zum Teufel jagen.
Statt auch nur irgendetwas zu sagen, ging sie einfach weiter. Maistowe setzte zu einem schwachen Protest an, seufzte aber dann nur resignierend und machte ein paar rasche Schritte, um wieder zu ihr aufzuschließen.
Angesichts der fortgeschrittenen Stunde brannte noch in erstaunlich vielen Häusern Licht; selbst aus dem Ten Bells am anderen Ende der Straße drangen noch gedämpfte Stimmen und Gelächter und das Klirren von Gläsern, obwohl die Sperrstunde längst vorüber war. Sie stellte Maistowe eine entsprechende Frage, auf die sie aber nur ein Kopfschütteln und einen fast mitleidigen Blick erntete.
»Nicht alles, was man sich in Ihrer Heimat über London erzählt, entspricht auch den Tatsachen«, sagte er. »So wenig wie das, was man sich hier über Ihre Heimat erzählt.« Er hob die Schultern. »Das mit der Sperrstunde ist schon richtig, aber die Leute hier … haben sich mit der Obrigkeit arrangiert.«
Bast verstand sehr wohl, was er meinte, aber sie war dennoch ein wenig erstaunt. Natürlich gab es Viertel wie diese auch in Kairo – oder nahezu jeder anderen Stadt auf der Welt. Aber sie hatte noch nie erlebt, dass es so offen geschah, und schamlos. Nicht nur unter den Augen der Obrigkeit, sondern ganz eindeutig mit deren Duldung. Die Briten waren schon ein sonderbares Volk.
»Sind Sie jetzt schockiert?«, fragte Maistowe. Anscheinend war es in diesem Moment nicht besonders schwer, in ihrem Gesicht zu lesen. Sie schüttelte – aus einem vollkommen anderen Grund, als Maistowe annehmen mochte – beinahe erschrocken den Kopf.
»Nicht schockiert. Nur … überrascht. Ich dachte immer, das Empire wäre ganz besonders sittenstreng.«
»Das ist es auch«, antwortete Maistowe ernsthaft. »Und Viertel wie diese sind der Grund, aus dem das System funktioniert. Nicht alle Bürger des Empire sind Blaustrümpfe oder presbyterianische Priester, wenn Sie … ähm … verstehen, was ich meine.«
»Ich glaube schon«, antwortete Bast spöttisch. »Wenn ich mich ein wenig anstrenge.«
Maistowe sah sie einen halben Atemzug lang irritiert an und rettete sich dann in ein verlegenes Grinsen. »Nun ja«, fuhr er fort. »Manchmal entsteht eben ein gewisser …«
»Druck?«, schlug Bast vor.
»… Druck, genau«, bestätigte Maistowe. »Und er braucht ein Ventil. Ohne diese Frauen hier … gäbe es vielleicht Probleme. Es könnte zu … schlimmen Dingen kommen.«
Bast sah demonstrativ über die Schulter zurück.
»Noch schlimmeren Dingen«, sagte Maistowe hastig. »Schließen Sie nicht von einem einzelnen Verrückten auf alle, Bast. Die meisten Männer, die hier verkehren, sind ganz normal.«
So wie du, dachte Bast spöttisch. Allerdings hütete sie sich, diese Antwort laut auszusprechen, oder auch nur irgendetwas zu sagen. Allmählich begann ihr Maistowes
Weitere Kostenlose Bücher