Anubis 02 - Horus
Tag erleben würde. Längst nicht alle von denen, die damals zusammengekommen waren, um eine Welt zu erschaffen, waren heute noch am Leben. Es gab … Unfälle. Manche waren ermordet, einige beinahe aus Versehen getötet worden, und manche einfach verschwunden. Es war nicht leicht, ein Gott zu sein, und ihre Gemeinschaft hatte einen grausamen Preis für diese simple Erkenntnis bezahlt.
Irgendwann würde es auch ihr so ergehen, das wusste sie. Wahrscheinlich würde keiner von ihnen eines natürlichen Todes sterben. Wesen wie sie waren nicht dazu erschaffen, an Altersschwäche einzugehen.
Das intensive Gefühl, beobachtet zu werden, riss sie auf unangenehme Weise in die Wirklichkeit zurück. Alarmiert sah sie auf, konnte im ersten Moment nichts entdecken und begegnete dann dem Blicke zweier gelb leuchtender Katzenaugen, die sie durch den Spiegel anstarrten. Bildete sie es sich nur ein, oder funkelten sie in unverhohlenem Spott?
»Du hast ja recht«, seufzte Bast. »Ich bin eine eitle Ziege. Aber wenn du erst einmal die ersten paar tausend Jahre hinter dir hast, dann fängst du auch an, aufmerksamer nach Falten zu suchen, wenn du vor einem Spiegel stehst. Wirst schon sehen.«
Cleopatra maß sie mit einem weiteren, noch spöttischeren Blick und begann sich dann lautstark schnurrend zu putzen. Bast setzte ihre Inspektion gewissenhaft fort, verbot ihren Gedanken aber dieses Mal abzuschweifen, sondern inspizierte ihr Spiegelbild mit akribischer Gründlichkeit. Ohne einen Vergleichsmaßstab fiel ihre enorme Größe nicht auf, denn ihr Körper war so perfekt proportioniert wie ein Kunstwerk, nicht wie ein lebendes Wesen, ein Anblick, den keiner rasch vergaß. Allein die Kombination ihrer pechschwarzen Haut mit den fast aristokratisch anmutenden, kaukasischen Zügen war ungewöhnlich genug, und hätte sie ihr Haar wie üblich rückenlang und offen in seiner feuerroten Farbe getragen, wäre sie noch auffälliger gewesen.
Nichts davon interessierte sie im Augenblick. Sie musterte ihr Spiegelbild kritisch und Zentimeter für Zentimeter, und nach einigen Augenblicken wurde sie fündig: Unter ihren Fingernägeln klebte Blut; vermutlich ihr eigenes. Es war nicht leicht zu entdecken, denn auch ihre Fingernägel waren schwarz, doch Mrs Walsh hatte scharfe Augen, und einen weiteren Lapsus wie den von heute Morgen sollte sie sich besser nicht leisten. Mrs Walsh – und auch Maistowe – hatte ohnehin schon zu viel gesehen. Sie würde etwas unternehmen müssen, dachte sie betrübt, während sie zur Waschschüssel ging und sich die Fingernägel so lange schrubbte, dass sie beinahe schon wieder zu bluten begonnen hätten. Bald. Am besten noch heute.
Aber ganz gleich, was sie ihr und Maistowe auch antun musste, es würde nicht annähernd so schlimm sein wie das, was Horus und Sobek mit ihnen machen würden.
Auch das war etwas, was sie sehr bitter hatte lernen müssen: Menschen wie sie waren nicht nur für die Ewigkeit geschaffen, sondern auch für die Einsamkeit. Einen Sterblichen zu lieben hatte sie sich schon vor Jahrtausenden verboten, und selbst ihre Freundschaft brachte nur zu oft den Tod.
Sie beendete ihre Maniküre, indem sie Mrs Walshs Rasiermesser benutzte, um ihren Schädel von dem bereits wieder sichtbaren Haarflaum zu befreien, nahm ein neues, ebenfalls schwarzes Kleid aus ihrem Koffer und wählte anschließend wieder den roten Turban von gestern; das schwarze Tuch, das sie am Morgen getragen hatte, war ebenso verschwunden wie das dazugehörige Kleid.
Zusammen mit Cleopatra, die ihr auf dem Fuß folgte, verließ sie das Zimmer und blieb am oberen Ende der Treppe stehen, um einen Moment zu lauschen. Mrs Walsh und Kapitän Maistowe unterhielten sich leise unten im Erdgeschoss. Bast machte sich nicht die Mühe, auf die Worte zu achten, denn allein der Tonfall und die gelöste Stimmung, die sie von unten auffing, machten ihr klar, dass sie nur über Belanglosigkeiten redeten. Plötzlich bekam sie ein schlechtes Gewissen, hier oben zu stehen und zu lauschen, und ging mit schon fast hastigen Schritten weiter.
Die beiden saßen auch jetzt wieder am Kamin, in dem ein behagliches Feuer prasselte, aber der kleine Schachtisch war einem größeren Tisch gewichen, der Platz für drei Personen bot. Mrs Walsh hatte bereits für drei gedeckt, und Bast registrierte erst jetzt den verlockenden Bratenduft, der aus der Küche herüberwehte. Sie war nicht auf diese Art hungrig, denn sie benötigte nur sehr wenig körperliche Nahrung.
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