Anubis - Roman
protestierte Miss Preussler.
Mogens sah sie nur überrascht an. Nach allem, was bisher geschehen war, hätte er eine etwas andere Reaktion von ihr erwartet. Der gute Kern, der unter Miss Preusslers sprichwörtlicher rauer Schale schlug, musste wohl noch größer sein, als er bisher geahnt hatte. Und zweifellos hatte sie Recht. Dennoch schüttelte er nur noch einmal entschlossen den Kopf und atmete zugleich innerlich erleichtert auf, als er genau das fand, wonach er Ausschau gehalten hatte: zwar keine Ruder,aber doch zwei kräftige, mehr als mannslange Stangen, mit denen man das Boot von der Stelle staken konnte.
»Er hat es selbst gesagt«, antwortete er, während er sich bereits nach einer Stange bückte. Sie war unerwartet schwer und fühlte sich so glatt und massiv in seiner Hand an, als bestünde sie aus Metall oder Stein, nicht aus Holz. Mogens musste beide Hände zu Hilfe nehmen, um sie überhaupt hochheben und ihr Ende ins Wasser hinabgleiten lassen zu können. »Vielleicht sollten wir ausnahmsweise einmal auf das hören, was er sagt.«
Die Stange stieß schon nach einem überraschend kurzen Stück auf Widerstand. Der Kanal war offensichtlich gerade tief genug, dass das Boot darauf schwimmen konnte. Mogens stemmte sich probehalber mit seinem ganzen Körpergewicht dagegen. Im allerersten Moment geschah nichts, dann aber löste sich die Barke, langsam, zitternd und so widerwillig wie ein lebendes Wesen, das nicht mit dem einverstanden ist, was von ihm verlangt wurde, vom Ufer und begann sich träge auf der Stelle zu drehen. »Kommen Sie«, sagte er noch einmal. »Es wird Zeit.«
Miss Preussler wäre nicht Miss Preussler gewesen, hätte sie nicht noch ein paar Sekunden verstreichen lassen, in denen sie einfach ihn und das Boot abwechselnd anstarrte, dann aber trat sie mit einem plötzlich entschlossenen Schritt zu ihm hinab und zog in der gleichen Bewegung auch das Mädchen mit sich. Mogens hatte fest damit gerechnet, dass sie sich sträuben oder gar wehren würde, aber ihr Widerstand schien endgültig gebrochen zu sein. Fast willenlos folgte sie Miss Preussler, das Bündel mit dem toten Kind weiter fest an die Brust gedrückt und mit leerem Blick, der starr auf die Wasseroberfläche gerichtet blieb. Und ganz plötzlich wurde Mogens auch klar, was er sah: einen Menschen, der mit seinem Leben abgeschlossen hatte. Der Augenblick, in dem sie das, was immer sie in diesen schwarzen Fluten auch sehen mochte, noch zu Tode geängstigt hatte, war vorüber. Sie hatte aufgegeben und fügte sich in ihr Schicksal, vielleicht weil ihre Kraft einfach nicht mehr reichte, um zu kämpfen, vielleicht auch, weil sie niemals gelernt hatte, sich zu wehren.
Mogens’ Blick folgte dem der jungen Frau. Es war nicht einfach nur das Boot, das sie anstarrte. Die größte Angst hatte sie sichtlich vor dem schwarzen Sarkophag, vielleicht auch vor der monströsen Gestalt, die in seinen Deckel eingraviert war, und Mogens fragte sich, ob sie ein solch monströses Wesen vielleicht schon einmal tatsächlich zu Gesicht bekommen hatte. Noch vor weniger als einer Stunde hätte er einen solchen Gedanken als lächerlich von sich gewiesen, aber jetzt jagte er ihm einen eisigen Schauer über den Rücken.
»Nehmen Sie die Stange, Miss Preussler«, sagte er. »Bitte.«
»Doktor Graves’ Frist ist noch nicht um«, sagte sie stur.
Mogens funkelte sie einen Moment lang wütend an, aber er sagte nichts. Sie hatte ja Recht, auch wenn es sich vermutlich nur noch um wenige Augenblicke handelte; und es ging dabei gar nicht so sehr um Graves. Miss Preussler hatte viel rascher als er begriffen, dass er sich den Rest seines Lebens fragen würde, ob Graves nicht vielleicht doch noch im allerletzten Moment gekommen war. Er hatte einmal in seinem Leben jemanden im Stich gelassen, und er würde es nicht noch einmal tun. Wortlos drückte er ihr die Stange in die Hand, bückte sich nach der zweiten und ging zum Bug der Barke. Etwas wie ein kalter Luftzug schien ihn zu streifen, als er den schwarzen Sarkophag passierte, aber das mochte Einbildung sein. Nicht erst, seit sie dieses Boot betreten hatten, konnte er seinen Sinnen nicht mehr in gewohntem Umfang vertrauen.
Obwohl Miss Preussler die Stange nur lose in den Händen hielt, drehte sich die Barke weiter langsam auf der Stelle, bis der hochgezogene Bug genau in die Richtung wies, in der sich der Kanal in der Dunkelheit verlor, und kam mit einem sachten Zittern zur Ruhe; ein weiterer Zufall, der Mogens einen
Weitere Kostenlose Bücher