Anubis - Roman
Mogens der vielleicht realistischste Mensch, den er selbst kannte. Er verscheuchte den Gedanken fast erschrocken, richtete sich weiter hinter seiner Nekropolen-Deckung auf und zog die Hand aus der Tasche.
Hätte er es dabei belassen und sich unverzüglich auf die Suche nach Janice gemacht, dann wäre nicht nur dieser Abend, sondern sein gesamtes Leben vollkommen anders verlaufen. Doch in diesem Augenblick wiederholte sich das unheimliche Schlurfen, und als Mogens die Augen anstrengte, da erblickte er einen gedrungenen Schatten, gerade an der fragilen Grenze, an der wirklich Gesehenes und die Ausgeburten von Fantasie und Furcht miteinander zu verschmelzen beginnen. Mit dieser Gestalt war irgendetwas nicht so, wie es sein sollte, und nun war es gerade Mogens’ unstillbare Neugier allem Unbekannten und vermeintlich Unerklärlichem gegenüber, die sein Jagdfieber weckte, und das Schicksal nahm seinen Lauf.
Mogens hatte seine Augen mittlerweile so angestrengt, dass sie zu tränen begannen. Dennoch konnte er den sonderbaren Schatten jetzt besser erkennen, und offensichtlich hatte sichder Wind gedreht, denn die unheimlichen, schlurfenden Schritte waren nun merklich deutlicher zu hören. Mogens schob sich behutsam an seiner Deckung vorbei, huschte hinter einen weiteren, etwas kleineren Grabstein und sank in die Hocke, ließ den struppigen schwarzen Schatten zwanzig Schritte voraus dabei aber nicht aus den Augen. Das Licht reichte auch aus dieser Entfernung nicht, um Einzelheiten zu erkennen, aber immerhin sah Mogens jetzt, dass es sich um eine eindeutig menschenähnliche Gestalt handelte. Menschen ähnlich , nicht menschlich. Sie war hoch gewachsen und hatte Arme, Beine und einen Kopf, aber irgendwie erschien ihm nichts davon … richtig . Die Arme waren zu lang und pendelnd, wie die eines aufrecht gehenden Primaten, der Schädel zu gedrungen und irgendwie deformiert, und auch mit der ganzen Körperhaltung stimmte etwas nicht. Obwohl sich der unheimliche Schatten im Moment nicht bewegte, musste Mogens wieder an die sonderbar schlurfenden Schritte denken, die er gehört hatte. Ein kalter Schauer lief seinen Rücken hinab, und es gelang ihm nicht vollkommen, sich selbst einzureden, dass es nur der Wind war, der allmählich auffrischte.
Was war das? Ein Mensch doch wohl kaum. Aber es gab kein Tier von solcher Größe und Wuchs, und …
Um ein Haar hätte Mogens laut aufgelacht, als ihm klar wurde, dass es selbstverständlich kein Tier dieser Gestalt gab, weder hier noch sonst wo auf der Welt. Vor ihm stand niemand anderer als Jonathan Graves, dem die Kautschukmasken, die sie angefertigt hatten, um Marc und seiner Freundin einen gehörigen Schrecken einzujagen, ganz offensichtlich nicht ausreichten. Mogens hatte keine Vorstellung, wo Graves dieses sonderbare Kostüm aufgetrieben hatte und was es darstellte, aber zumindest bei den herrschenden Lichtverhältnissen und über die Entfernung von gut zwanzig Schritten hinweg war seine Wirkung äußerst erschreckend. Selbst er war für einen Moment darauf hereingefallen, und er sollte es nun wirklich besser wissen.
»Jonathan?«, rief er. Er hatte die Stimme zu einem hellen Flüstern gesenkt, das allerhöchstens die zwanzig Schritte weittrug, die Jonathan entfernt war – schließlich wollte er ihm ja nicht den Spaß verderben und Marc und Ellen im allerletzten Moment noch warnen –, aber Graves hatte ihn offensichtlich trotzdem gehört, denn er fuhr auf der Stelle und mit einem knurrenden Laut herum und nahm eine geduckte, lauernde Haltung an. Selbst seine Bewegungen wirkten wie die eines Tieres, kaum wie die eines Menschen. Mogens hatte sich bereits halb hinter seiner Deckung erhoben, erstarrte aber nun noch einmal mitten in der Bewegung und blinzelte gleichermaßen verwirrt wie beunruhigt zu dem struppigen Schatten hin. Er erkannte auch jetzt nichts als eine bloße Silhouette, aber da waren spitze, fuchsartige Ohren, schreckliche Krallen und mattsilbernes Sternenlicht, das sich auf tückisch funkelnden Augen brach.
»Jonathan?«, fragte er noch einmal. Sein Herz klopfte. Er schalt sich selbst in Gedanken einen Dummkopf – Marc hätte seine helle Freude, könnte er ihn in diesem Moment sehen! –, führte die begonnene Bewegung energischer zu Ende und trat mit einem schwungvollen Schritt hinter dem Grabstein hervor, und die fuchsohrige Gestalt war von einem Blinzeln auf das nächste verschwunden.
»Jonathan?«, fragte er zum dritten Mal, und diesmal konnte Mogens
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