Anwältin der Engel
stemmte die Knie gegen den Sitz vor ihr und wickelte die restliche Hälfte von Brees Sandwich aus. »Das arme Mädchen. Gibt es denn überhaupt irgendjemanden, dem es nicht scheißegal ist, was mit ihr passiert?«
Bree dachte an Madison, die vernünftig war und mit beiden Beinen fest auf der Erde stand, und an Chad Martinelli, für den das keineswegs zutraf. »Schon möglich. Ich hoffe es. Heute Nachmittag werde ich zu Lindsey fahren und sie bearbeiten.« Sie widerstand der Versuchung, mit den Zähnen zu knirschen. »Dieses Kind! Sind sie und Chad in die Einbrüche verwickelt? Und wissen die Familien davon? Das würde erklären, warum die Chandlers die Sache unter Verschluss halten. Meinst du, das sei eine Art Rache an ihren Eltern? Warum denn nur , um Gottes willen?« Frustriert trat sie gegen den Sitz vor sich. »Ich kann einfach nicht glauben, weigere mich zu glauben , dass die zwei einen Mord begangen haben sollen.«
Schweigend drückte Antonia ihr Mitgefühl aus. Dann sagte sie: »Und was willst du jetzt tun?«
»Ins Büro zurückfahren. Und mir noch einmal alle Unterlagen ansehen. Vielleicht zeichne ich auch ein Diagramm auf die Wandtafel. Bloß dass ich keine Wandtafel habe.« Bree schloss die Augen. Plötzlich hatte sie die ganze Untersuchung satt. Pseudoephedrin. Wahrscheinlich Labore, in denen Methamphetamin hergestellt wurde. Gott helfe ihnen. »Wollen wir heute Abend nach der Vorstellung eine Pizza essen gehen?«
»Hab schon ein Date. Tut mir leid.«
Das war ein nettes, normales Gespräch zwischen Schwestern. Bree sah Antonia liebevoll an. »Ach ja? Sherlock oder Watson?«
»Kreisch! Watson ist mindestens fünfundvierzig Jahre alt!«
»Also dann Sherlock«, stellte Bree fest. »Sieht gut aus und ist auch ein toller Schauspieler. Er war doch bei meiner Einstandsfeier, nicht? Hatte ich ganz vergessen. Was bist du doch für ein Glückspilz.«
»Was bin ich doch für ein Glückspilz«, sagte Antonia mit einem fröhlichen Seufzer, um dann mit merklichem Zögern hinzuzufügen: »Wenn du willst, kannst du ja mitkommen. Wir gehen ins Murphy’s Law tanzen, dieser Pub in der Nähe vom Franklin Square. Hunter kann doch tanzen, oder? Bring ihn einfach mit.«
»Hunter und tanzen? Dass ich nicht lache!«
»Mensch, Bree, der Typ bewegt sich wie ein Boxer. Ich könnte wetten, dass er ein flotter Tänzer ist.«
»Ich habe aber nicht die Absicht, das herauszufinden.« Bree erhob sich.
»Willst du los?«
»Ja.«
»Willst du Hunter von Lindsey und den Schlüsseln erzählen?«
»Weiß ich noch nicht.« Bree stand im Gang zwischen den Sitzen und dachte angestrengt nach. Sie hatte zwar keine Lust, noch einmal zur Cliff’s Edge Academy zu fahren, doch ihr schien nichts anderes übrig zu bleiben. Was sie von Lindsey wissen wollte, wollte Lindsey ihr nicht sagen. Wenn sie sie anrief, hatte das Mädchen dieMöglichkeit, einfach aufzulegen. Und es war schwerer zu lügen, wenn man dem, der einen befragte, gegenübersaß. »Wie spät ist es?« »Viertel vor eins.«
»Ich fahr ins Büro. Danach … sehe ich weiter.«
»Heute Abend werden wir wahrscheinlich bei Huey’s landen. Wär schön, wenn du noch vorbeikämst.«
Doch Bree war bereits halb den Gang hoch und gab keine Antwort mehr.
In der Angelus Street 66 war niemand zu Hause. Bree trat in ein Büro, in dem alles dunkel war. Draußen kam Wind auf, und von Westen zogen Unwetterwolken heran. Sie fütterte die drei Hunde und ließ sie, da Bellum fordernd an der Hintertür kratzte, anschließend alle auf den Friedhof hinaus. Sascha erleichterte sich am Magnolienbaum, um dann eifrig den Zaun zu beschnuppern, der die Gräber umgab. Miles und Bellum verrichteten ihr Geschäft auf würdevollere Weise. Danach ließen sie sich zwischen den Gräbern der Pendergasts nieder. Wie Grabwächter, dachte Bree.
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und nahm sich die Unterlagen vor. Zuerst las sie eine kurze Notiz, die Ron für sie hinterlassen hatte.
Ich habe mit Luis Chavez gesprochen. Soweit er sich erinnern kann, gab es drei Einbrüche ins Lager. Der erste war Anfang Juli, am Abend vor Probert Chandlers Tod. Die anderen zwei fanden danach statt, jeweils im Abstand von zehn Tagen.
Auch Petru hatte ihr eine Nachricht hinterlassen.
Handyanrufe am Todestag des Klienten:
Mr. Mel Jensen 6: 00 morgens
Dr. John Lindquist 6: 07 morgens
John Stubblefield 6: 10 morgens
Jensen, der Geschäftsführer, musste, als er um sechs Uhr morgens seinen Dienst angetreten hatte, den
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