Anwältin der Engel
»Zum Beispiel bei der Unterstützung bedürftiger Kinder und der Verteilung von Lebensmittelcoupons. Haben Sie damals nicht auf die staatliche Sozialhilfe zurückgegriffen, um die niedrigen Löhne auszugleichen, die Sie Ihren Teilzeitbeschäftigten zahlen?« Es hatte, wie sie sich erinnerte,ein Memo gegeben, in dem die hiesigen Manager von Marlowe’s aufgefordert worden waren, stets eine Liste von staatlichen und bundesstaatlichen Hilfsprogrammen zur Hand zu haben. Angestellte, die auf Vollzeitbeschäftigung aus waren – was ein Mindestmaß an medizinischer Versorgung oder höhere Löhne mit einschloss –, wurden aufgefordert, staatliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, statt mehr Stunden zu arbeiten, was bedeutet hätte, dass die arbeitsrechtlichen Bestimmungen zur Vollzeitbeschäftigung angewandt werden mussten.
Da die Lämpchen in den Bäumen nur unzureichend Licht gaben, konnte sie Lindquists Gesichtsausdruck nicht genau erkennen. »Das ist richtig«, erwiderte er in derart gleichgültigem Ton, dass Bree an sich halten musste, um nicht zu explodieren. Sie nahm ihr Glas Weißwein von der einen in die andere Hand. »Ich hatte gehofft, Sie könnten mir ein paar Tipps für die Verteidigung von Lindsey geben.«
»Tipps?«, entgegnete er verständnislos.
»Ich versuche, die bestmögliche Verteidigung aufzubauen. Und dafür muss ich wissen, wie es mit Lindsey so weit kommen konnte.«
»Wie meinen Sie das?«
»Wir haben es mit einem siebzehnjährigen Mädchen zu tun«, erklärte Bree, »das auf die ganze Welt zu spucken scheint. Ihre Mom und ihr Dad waren nach über dreißig Jahren immer noch verheiratet. Die Familie ist stinkreich, verzichtet aber bewusst auf den extravaganten Lebensstil, der so viele Kinder aus wohlhabenden Familien in Schwierigkeiten bringt. Ihr älterer Bruder und ihre ältere Schwester scheinen ebenfalls ein normales,vernünftiges Leben zu führen. Ihr Bruder ist in der Firma auf dem Weg nach oben, offenbar muss er sich aber hochdienen. Ihm wird nichts nachgeschmissen, nur weil er der Sohn von einem der fünf reichsten Männer der Welt ist. Und ihre Schwester unterrichtet an einer Mittelschule. Hört sich das nach einer Familie an, die einen Teenager zum Ausflippen bringt?«
»Sie scheinen ja eine Menge über die Familie zu wissen«, stellte er missbilligend fest.
»Ich habe gute Angestellte. Besonders wenn es um Recherchen geht.«
Lindquist lies das Eis erneut im Glas kreisen. »Also ich kann Ihnen dazu Folgendes erzählen. Lindsey war vom Tag ihrer Geburt an ein Problem.«
»Ah ja?«
Er nickte entschieden. »Ganz anders als die anderen zwei. Es war eine schwierige Schwangerschaft, und als das Kind dann geboren war, wurden die Dinge noch schwieriger. Lindsey war ein unruhiges Baby. Schlief nicht viel. Hatte dauernd Koliken und dergleichen. Als Kleinkind neigte sie zu Wutanfällen. Einmal hat sie sogar ihren Bruder gebissen. In den Arm. Ich kann mich noch deutlich an die Abdrücke ihrer Zähne erinnern.«
»Was Sie nicht sagen«, erwiderte Bree. »Ich verstehe zwar nicht viel von Babys und Kleinkindern, Mr. Lindquist, aber was Sie da erzählen, hört sich nicht nach einem gestörten Kind an, sondern nur nach einem unruhigen. Davon gibt es viele.«
Er nickte eifrig. »Zu viele, meinen Sie nicht auch?«
Bree zuckte die Achseln. »Schon möglich. Sonst noch etwas?«
»Nun ja, sie war immer eine schlechte Schülerin. Brachte ständig nur Dreien und Vieren nach Hause. Es war so gut wie unmöglich, sie zu motivieren, Bert und Carolyn halten … hielten zwar nichts davon, dauernd zum Arzt zu rennen, machten aber trotzdem den Versuch, sie behandeln zu lassen.«
»Ich verstehe nicht ganz. Weswegen denn?«
»Weil sie sich nicht einfügte. Weil sie ein störendes Element in der Familie war. Muss ich noch deutlicher werden?«
Bree verzog das Gesicht. »Lassen Sie uns das Ganze mal von Lindseys Standpunkt aus betrachten. Ich weiß, dass Mr. Chandler und Sie befreundet waren … «
»In gewisser Weise«, erwiderte er. »Wir haben uns auf der Universität kennengelernt. Wir alle haben im Hauptfach Chemie und im Nebenfach Betriebswirtschaft studiert. Eine ungewöhnliche Fächerkombination, wenn man es recht bedenkt. Deshalb war es auch ganz natürlich, dass wir uns zueinander hingezogen fühlten.«
»Mrs. Chandler ist auch Chemikerin?«, fragte Bree etwas überrascht.
»Carolyn?«, schnaubte er. »Die doch nicht. Wie um alles in der Welt kommen Sie denn darauf?«
Bree wusste, dass sie
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