Anziehungskraft: Stil kennt keine Größe (German Edition)
las mir aus den kleinen Grußkärtchen vor, die mit Heftzwecken an den Innenseiten der Deckel befestigt worden waren. »Walter. In Liebe, Walter. Du mein Sonnenschein. Ich, Dein Walter …« Jener »Walter« hatte eine geschwungene und fein säuberlich lesbare Schrift. Ein Schriftbild, wie ich es nur von Frauen kenne. Sofort kam mir der Gedanke: Diese Zettelchen sind niemals von einem Mann geschrieben worden! Walter war die Liebe ihres Lebens und hatte in den späten 80er-Jahren aufgehört, ihr Zettelchen und Pakete zu schicken. Sein Leben wurde durch einen Autounfall in den Dolomiten abrupt beendet. Wie sie »Dolomiten« sagte, als wäre dieses Gebirge der abscheulichste Ort auf der ganzen Welt. Vermutlich war es für sie nicht nur ein Höhenzug in Italien, der ihr den geliebten Mann genommen hatte, sondern auch das Ende einer großen Ära – dessen Abstieg sie alleine gehen musste, da diese Berge ihr das Liebste, ihren Walter genommen hatten.
Herr Walter hatte meine »Frau Maysenkaiser« wohl sehr geliebt, jedoch musste sie seine Zuneigung teilen. Frau Walter wusste im Gegensatz zu meiner Kundin nichts von dem Doppelleben ihres Mannes. Das glaubte sie zumindest. Geliebte zu sein ist wie Teilzeitbeschäftigung und hauptberuflich wird gewartet. Ehefrau und Mutter zu sein ist jedoch nur hauptberuflich zu schaffen und im Nebenberuf wird gewartet. Die einzige Gemeinsamkeit im Leben dieser beiden Frauen ist ein und derselbe Mann.
Er hatte ihr in den 70er-Jahren eben jene kleine Wohnung eingerichtet. Vermutlich hatte er zum selben Zeitpunkt ein Schlafzimmer für eines seiner vier Kinder eingekauft, dessen Handschrift sich kaum von dem Stil der »Maysenkaiser«-Wohnung unterschied. Ein Mädchenzimmer für die Ewigkeit. Ihre Ewigkeit bestand darin, ihn lebenslang dafür zu lieben, auch über den Tod hinaus. Die Dolomiten hatten ihr einen Strich durch die Lebensplanung gezogen, an deren Ende sicher die Trennung von seiner Frau gestanden hätte. Wer weiß, was Walter gemacht hätte, hätte ihn das Leben nicht aus einer Kurve getragen. Sie erzählte mit so einer Hochachtung von jenem »Präsente-Walter«, dass auch ich schon geneigt war, ihn zu mögen.
Doppelleben hin oder her – es scheint ihm gelungen zu sein, lebenslange Dankbarkeit und Zuneigung bei seiner Zweitfrau ausgelöst zu haben. Walter hatte wie sie einige Pfunde zu viel auf den Rippen, und das schon 1978. Der gute Teilzeitmann hatte zwar eingerichtet, die Miete für die kleine Bleibe musste das Herzstück seiner Zuneigung jedoch selber bezahlen. Sie arbeitete im Unternehmen ihres Geliebten an der Rezeption. Was nicht nur sehr zugig war, sondern sicher auch nicht erbaulich, da zumindest auch auf der Arbeit niemand von dem stillen Einvernehmen wissen durfte. Die Höchststrafe für eine Geliebte ist, nie Nummer eins sein zu können und sich nicht einmal darüber aussprechen zu dürfen. Er hatte mit ihr kleine Zeichen abgemacht, damit sie sich an der Rezeption seiner uneingeschränkten Zuneigung sicher sein konnte. »Ein guter Chef«, sagte sie, »sagt immer Guten Morgen, Herr Kretschmer. Merken Sie sich das.«
Walter war also kein Held, sondern ein Präsentepacker, den das Leben in den Dolomiten aus der Kurve gehauen hatte. Leider konnte auch ich nicht bremsen, als sie mir vorschlug, eines ihrer Schmuckstücke in Zahlung zu nehmen, um ein Kleid und eben diesen Mantel umarbeiten zu lassen. Walters 20-jähriger Todestag nahte. Mag es an ihrem Blick gelegen haben oder an meiner Menschenliebe, an Walter oder an der Erinnerung an eine zugige Rezeption, ich sagte Ja.
Zug, zugig, es zieht, kenne ich in keiner anderen Sprache. Ich weiß nicht einmal, ob es in einer anderen Sprache ein Wort dafür gibt. Wir Deutschen haben es immer zugig, wir wollen nie sitzen an einem Platz, der zieht. Immer zieht es uns, und wenn es zugig ist, wollen wir da nicht hin. Ich weiß nicht einmal, ob in England jemals jemand im Zug gesessen hat. Manchmal ist es »a bit chilly« oder »it’s a bit windy«, aber es ist niemals zugig. Vielleicht ist »im Zug sitzen« etwas ganz Deutsches und verbindet uns alle.
Ihre blaue Samtschatulle beherbergte eine Vielzahl von Kästchen der Marke Cartier, Bulgari, Tiffany und einiger anderer großer Marken sowie schwarze Samtetuis mit Golddruck von italienischen und französischen Juwelieren. Sie besaß Perlenketten mit Brillantverschlüssen, Ohrklipse mit Saphiren und Rubinarmbänder sowie eine beachtliche Zahl von Brillantringen und Smaragdbroschen.
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