Apfeldiebe
Jahren erzählen werden.
Und wieder sprang ein Stein ins Tal.
» Ich brauch ’ne Pause.« Alex brachte den gerade ausgegrabenen Stein persönlich nach unten. Er warf ihn auf den ordentlich angewachsenen Berg an der Wand und setzte sich anschließend auf exakt diesen Stein. Sollte sich jeder Brocken so wehren wie dieser, dürften sie Weihnachten noch hier unten sitzen. Aber Alex hatte es geschafft, hatte gehebelt und gezogen, dagegengetreten und so die Spannung gelöst, die dieses Stück Fels gefangen gehalten hatte.
Timi und Kasimir setzten sich neben ihren Chef , einer musste schließlich der Chef sein, der Anführer, der die Kleinen mit Wasser versorgte, der sie motivierte. Alex gefiel sich in dieser Rolle, sie war ihm nicht neu, schließlich hatte letztendlich jedes Kind beim Spiel auf sein Kommando gehört, nur dass man dies hier eben nicht mehr als Spiel bezeichnen konnte. Es ging um Leben und Tod, wie der Steinhaufen gegenüber belegte. Um Leben und Tod. Aber statt sich von dieser Last erdrücken zu lassen, gab sie Alex Kraft.
» Wie geht’s deinem Arm?«
» Geht schon.« Kasi drehte sich zur Seite. Alex beobachtete Kasimir schon eine ganze Weile und es war ihm nicht entgangen, dass Kasi seinen rechten Arm kaum noch benutzte. Beim Aufladen der Steine hielt er diesen Arm angewinkelt und kratzte mit der Linken den ganzen Kleinkram auf sein Brett. Und statt die Brocken, die Alex nach unten rollte, zum Depot an der Wand zu tragen, rollte er diese. Inzwischen arbeitete Timi beinahe effektiver als Kasi und auch jetzt hielt dieser seine Flasche in der linken Hand und das als Rechtshänder.
Alex holte Kasimirs Kurbellampe. Ihr Licht ließ, je nachdem wie viel Zeit man vorher investiert hatte, nach spätestens einer halben Stunde so weit nach, dass eines der Kinder die Arbeit unterbrechen und den Akku neu aufladen musste. Sich seiner Verantwortung für die Kleinen bewusst, achtete Alex stets darauf, dass es immer so hell blieb, dass sie sich gegenseitig und – ganz wichtig – den Brunnenschacht sehen konnten. Sie hatten zwar den Tisch verkehrt herum über das Loch gelegt, aber Alex traute diesem wurmstichigen Ding keinen Meter. Sollte da einer drauftreten, dürfte es zusammenbrechen und mitsamt dem Drauftreter in die Tiefe fallen. Trotzdem fand er es so besser als den Schacht unbedeckt zu lassen, denn sollte sich einer von ihnen dem Loch ohne dieses zu bemerken nähern, musste er gegen eines der Tischbeine stoßen. Sozusagen eine Tischbeinalarmanlage.
» Jetzt zeig deinen Arm her!« Kasi aber drehte sich erneut weg. Er wusste, wie dieser Arm aussah. Zum Davonlaufen, jedenfalls fühlte er sich ganz genau so an. Was mussten das die anderen sehen? Aber Alex gab nicht nach. Seine langen Arme ließen Kasi keine Chance.
» Auweia!« Timi starrte mit offenem Mund auf Kasis Oberarm.
Die Wunde hatte sich entzündet und Kasimirs Oberarm deutlich an Umfang zugelegt. Alex dachte, dass dieser Arm jetzt seinen eigenen an Masse deutlich übertraf und überhaupt nicht mehr zu dem Mädchen passen wollte. Als hätte Kasi in den vergangenen Stunden jemand seinen ursprünglichen rechten Arm abmontiert, blind in einen großen Armhaufen gegriffen, dummerweise den eines Bodybuilders gepackt und diesen dem Kind angeschraubt. Bis weit über die Schulter auf der einen Seite und über den Ellenbogen auf der anderen glühte Kasis Arm, spannte die Haut, glänzte wie mit durchsichtiger Plastikfolie umwickelt. Die Wunde selbst aber sah noch schlimmer aus. Als Alex und Timi sie betrachteten, hätten sie am liebsten sofort wieder angefangen, um Hilfe zu schreien; Kasi musste Qualen leiden. Aus dem aufgerissenen Fleisch liefen Flüssigkeiten, oben ziemlich klar, unten eher gelb. Kasi musste sie wohl ein paar Mal weggewischt haben, denn breite Schlieren – eindeutig von Kinderfingern, von schmutzigen Kinderfingern – verliefen quer über diesen Monsterarm.
» Oh Mann, sieht das Scheiße aus. Mir wird ganz schlecht.« Alex drehte sich weg.
» Danke«, sagte Kasimir, »jetzt geht’s mir doch schon viel besser. Du verstehst es echt gut, jemandem Mut zu machen.«
» Entschuldige.« Alex setzte sich wieder auf seinen Stein. »Da musst du irgendwas machen«, sagte er nach einer kurzen Pause und er wusste auch schon, was. Seine Großmutter hatte es ihm einmal erzählt, was sie damals im Krieg gemacht hatten, machen mussten, weil es nirgendwo mehr Ärzte und Medikamente gegeben hatte. Als sie ihm das erzählte, hatte er es für das übliche
Weitere Kostenlose Bücher