Apfeldiebe
Ordnung zu sein, er hörte Timis so vertrautes Lachen, die Stimmen der anderen. So nah und doch so unendlich weit von Max entfernt zogen Alex, Timi und Kasimir ihre Trinkflasche ein ums andere Mal aus dem Brunnen, tranken, wuschen sich und reinigten eine Wunde, deren Existenz Max’ einziger Gruß an diese fremde Welt darstellte.
Vom Jubelgeschrei der anderen geweckt, hatte es erneut einige Sekunden gedauert, bis Max wusste, wer und vor allem, wo er war. Als sich dann die Wirklichkeit in seinem Kopf manifestierte, hätte er sie am liebsten in Stücke gerissen und erneut vergessen. Timi hatte ihn verraten! Er, den er doch ein ganzes Timi-Leben lang beschützt hatte, saß jetzt bei Alex und dem Mädchen! Timi. Max wusste nicht, ob er wütend sein sollte über diesen Verrat oder einfach nur traurig. Er musste an eine kleine Tafel denken, die gut sichtbar an Seilers Haustür hing und da seit Jahren eine Wahrheit verkündete, die Max heute zum allerersten Mal verstand. An die ersten Zeilen konnte er sich nicht mehr erinnern, nur an den letzten Satz: Der Hund blieb mir im Sturme treu, der Mensch nicht mal im Winde! Timi – der kleine Luftzug vorhin hatte den Bruder davongeweht, einfach so. So lange Max noch Wasser besessen hatte, war Timi an seiner Seite geblieben und hatte getrunken, auch wenn es sich dabei um Mädchenwasser gehandelt hatte. Der letzte Schluck – und tschüss. Und er hatte doch das Wasser nur für ihn gestohlen, nur für Timi, den wichtigsten Menschen seines Lebens.
Max’ Hände umklammerten die Taschenlampe, Timis Lampe. Doch Timi brauchte diese Lampe nun nicht mehr, schließlich hatte er jetzt Freunde und was für tolle. So tolle, dass man dafür den eigenen Bruder vergaß. Was soll’s , dachte Max und lehnte sich zurück, das spielt jetzt alles keine Rolle mehr. In den zurückliegenden Stunden hatte er nachdenken können, an Schlafen war bei dem Krach, den die da vorn veranstalteten, nicht zu denken. Kein Satellit der Welt würde Alex’ Handy finden, so einfach lautete das Ergebnis seines Nachdenkens. Das hatte Max gestern schon gewusst, doch einem erst acht Jahre alten Bruder erzählt man diese Wahrheit nicht, es sei denn, man konnte ihn nicht leiden. Klar, jetzt würde er ihm diese Wahrheit genau so kalt und vernichtend wie sie sich anfühlte auftischen, aber Timi hörte ja nicht mehr zu.
Die Hände steif und gefühllos, schaltete Max seine Lampe an, aber anstatt, dass das Licht die Einsamkeit vertrieb, verstärkte es diese nur noch. Ohne Licht konnte er sich wenigstens noch einen anderen Ort erträumen, Fenster vielleicht, deren Vorhänge nur zurückgezogen werden mussten. Einen Fernseher. Einen Kühlschrank! Menschen. So aber erhellte der immer schwächer werdende Lichtschein nur gesammelte Trostlosigkeit. Nichts hatte sich seit dem letzten Anschalten verändert, kein Staubkorn sich bewegt. Wozu Licht? Ein Klicken und Max fiel zurück in seine lichtlose Traumwelt. Sie würden hier alle sterben, so wie der Schwarze, nur dass es bei ihnen etwas langsamer ginge. Sie würden hier verhungern und verdursten und sollte in ein paar Jahren oder Jahrzehnten wieder einmal so ein Dummkopf wie Alex auf dieser dämlichen Ruine herumstolzieren und einen Zugang hier herab finden, werden ihn vertrocknete Kinderleichen empfangen, er selbst mitten drin. Max lächelte. Komisch, diese Gedanken und komisch, dass er bei diesen Gedanken nicht einmal richtige Angst empfinden konnte. Und warum? Weil er sich nicht fürchtete. Da oben gab es nichts mehr, das eine Rückkehr reizvoll machen könnte. Sicher, er vermisste die Sonne und seinen Fernseher, den Computer und ganz besonders Frühstück, Mittagessen und Abendbrot sowie die vielen namenlosen Mahlzeiten dazwischen. Die letzten Stunden jedoch, vor allem aber Timis Verrat, hatten ihm klargemacht, dass es doch eigentlich gar nicht so schlimm war, hier unten zu sterben. Einfach so, wie das Abschalten eines Fernsehers. Aus und vorbei.
Max kroch auf allen vieren durch den Raum und zu seinem Rucksack. Er fand ihn und er fand noch ein paar Muffinkrümel darin. Er steckte sich den Finger in den Mund und tupfte mit diesem feuchten Magneten anschließend all die kleinen Verräter auf und leckte sie ab. Sie hatten ihren großen Muffinbruder verraten, genauso, wie Timi ihn verraten hatte und jetzt tilgte er sie von dieser blöden Welt. Fertig.
Die letzten drei Gummibärchen in der Hand, kroch er zurück und lehnte sich erneut am Durchgang an die Wand. Beinahe andächtig
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