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Apfeldiebe

Titel: Apfeldiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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leckte er an der wohl letzten Mahlzeit seines Lebens. Wie zufällig doch alles war, dachte er und schluckte das erste zerkaute Gummibärenbein. Rein zufällig hatte sich Max’ wirklicher Vater aus dem Staub gemacht und Mutter zufällig einen anderen Mann kennengelernt, diesen geheiratet und zu Max’ Stiefvater gemacht. Und rein zufällig mochte der seinen neuen Sohn. Max spuckte aus. Zufälligerweise hatte Alex das alles hier entdeckt und hätte der Zufall letzte Woche Max nicht vor seinem Sprung bewahrt, läge er jetzt mit gebrochenem Bein und angeschaltetem Fernseher im eigenen Bett und das Leben besäße weiterhin noch ein Morgen und ein Übermorgen.
    Letzte Woche war Max auf den alten Heuboden geklettert, mit dem unumstößlichen Vorsatz, von da oben drei Meter in die Tiefe zu springen und sich ein Bein zu brechen – nach Meinung des Jungen die einzige Möglichkeit, seinem Stiefvater für ein paar Tage oder Wochen zu entkommen. Er hatte die Riesenleiter bezwungen, sich da oben ganz an den Rand gestellt und an einem Balken festgehalten. Und gewartet. Und noch länger gewartet. Auf was? Vielleicht auf Mut, vielleicht auf Mutter. Ja, hatte er danach gedacht, das wäre schön gewesen, wenn Mutter gekommen wäre und ihren Großen gesehen und gerettet hätte und er ihr all das, was sie doch wissen musste, hätte erzählen können. Es kam aber niemand, nicht einmal die Streicheldiebe ließen sich sehen, obwohl er darauf hätte wetten können, dass die sich alle auf einem Balken – schräg gegenüber, mit einem ausgezeichnetem Blick auf den Steinewerfer und dessen Fall – versammeln würden, um seinem Sturz beizuwohnen. Aber sie hatten nichts verpasst, vielleicht waren sie auch genau aus diesem Grund nicht erschienen, wer wusste das schon? Katzen besaßen ja so etwas wie einen sechsten Sinn. Oder verwechselte er das mit den sieben Leben? Auch egal, die Katzen blieben der Vorstellung fern und Max stieg nach einer halben Stunde vom Heuboden. Und warum? Weil er Timi beschützen musste und weil man sich nicht einfach so ein Bein brechen durfte, wenn man von seinem Bruder gebraucht wird.
    Heute könnte er springen.
    Die aus dem vorderen Raum bis hierher dringenden Geräusche – Kratzen und Scharren – klangen in Max’ Ohren nach Totengräbern, nach Kindern, die ihr eigenes, großes Grab zuschaufelten. Aber wahrscheinlich versuchten sie gerade genau das Gegenteil dessen, sie verbrachten ihre letzten Stunden mit Sinnlosigkeiten wie dieser Kerl aus Griechenland – Max versuchte, sich zu erinnern, der Name aber wollte und wollte ihm nicht mehr einfallen. War ja auch nicht wichtig. Wichtig schien ihm vielmehr die Parallele. Die da vorn gruben und scharrten und was sie wegtrugen, rutschte von oben nach. Und ebenso sinnlos hatte dieser alte Grieche den lieben langen Tag einen Stein auf einen Berg geschoben, dieser rollte früher oder später zurück und der Kerl begann von vorn. Und wieder von vorn. Als ihnen ihr Lehrer diese Geschichte einmal im Unterricht erzählte, hatte Max sich schon über so viel Dummheit gewundert. Erstens: Wieso musste dieser Stein auf den Berg? Zweitens: Warum hatte keiner ihn von diesem Blödsinn abgehalten? und drittens: Warum erzählte man sich Tausende Jahre später noch die Geschichte von diesem offensichtlichem Versager, er selbst aber – Max – würde in null Komma nichts vergessen sein. Vielleicht dachten Alex, Timi und das Mädchen, dass man sich später einmal ihre Geschichte im Unterricht erzählen würde? Blöd genug dazu war es ja, was sie da vorn machten. Ja, blöd genug. Dann doch lieber hier sitzen und nichts tun.
    Max rutschte zur Seite. Wenn bloß diese Kälte nicht wäre, ohne sie könnte man es sonst ganz gut hier aushalten. Alles, dachte Max, alles fühlte sich so … so leicht an, so angenehm. Lag es an den fehlenden Vitaminen oder dem Wassermangel? Oder einfach nur an der Gewissheit, dass er nun mit seinem Vater – Stief vater! – nie mehr allein sein musste? Ja, dies musste der Grund sein, entschied Max und lächelte sogar bei der Vorstellung, dass Vater wohl der einzige Mensch sein dürfte, dem er wirklich fehlen würde. Max legte sich den Rucksack unter den Kopf, zog die Beine an und behielt die Taschenlampe wie ein Kuscheltier im Arm. Die Geräusche aus dem ersten Raum entfernten sich, verwandelten sich in drei wirklich dumme Kinder, die Steine auf einen Berg rollten und wieder hinaufrollten und noch einmal – wirklich dumme Kinder, von denen Lehrer noch in tausend

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