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Apfeldiebe

Titel: Apfeldiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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anklopfen, um ein Gruppenbild zu arrangieren: Apfeldiebe plus Bestohlener, aber bitte lächeln.
    Sollte den fünfen aber etwas zugestoßen sein, würden ihm alle hier im Dorf sein bisheriges Schweigen vorwerfen und, was immer mit den Kindern auch sein mochte, ihm ankreiden. So oder so, er wäre immer der Dumme.
    » Und? Haben Sie etwas beobachtet? Oder gefunden? Jede Kleinigkeit könnte helfen.«
    » Tut mir leid. Ich und mein Hund«, Hassos anfängliches Kläffen hatte sich über gelegentliches Bellen jetzt hin zum bekannten Fiepen gewandelt, »wir haben nix gesehen. Gar nix.«

    » Du meinst, ich hätte es ihnen sagen sollen?«
    Der Fernseher lief und das seit einer Stunde ohne Ton, aber Gernot Seiler schien weder das eine noch das andere zu bemerken. Er müsste nur aufstehen, die zwei Meter bis zum Gerät gehen und diesen kleinen Knopf drehen und schon wäre er wieder allein, stattdessen aber betrachtete er Mona-Lisas Bild. Nur ein paar Zentimeter unter diesem Bild lockte ein sprachloser Moderator mit seinem Zauber, einer Kraft, die all diese dummen Gedanken und Fragen und Überlegungen einfach so wegpusten konnte. Aber Mona-Lisas Zauber wog schwerer.
    » Ich weiß, ich hätte auch damals etwas sagen sollen, statt …, ja … Du weißt genau, dass es mir leid tut, also hör bitte auf, mich damit zu quälen«, aber er wusste, dass seine Liebe keine Ruhe geben würde. Andere nannten diese Gedanken und Zweifel Gewissen , bei ihm aber besaß dieses Gewissen einen Namen und ein Gesicht, er konnte sich mit diesem seit fünfzig Jahren unterhalten, was es ihm sehr schwer machte, ihre Fragen einfach zu ignorieren. Einen namenlosen Gedanken kann man übergehen und sogar vor sich selbst so tun, als gäbe es ihn gar nicht, Mona-Lisas Worte aber nicht. Ihr gegenüber durfte er nie wieder schweigen, dies hatte er ein einziges Mal getan und dieses Schweigen hatte ihm seine Liebe genommen.
    Seiler betrachtete ihr Gesicht.
    » Weißt du, Hasso, das war einer dieser elenden Ausschusstage.«
    Tatsächlich entstammte dieser letzte gemeinsam mit Mona-Lisa verbrachte Tag dem Vorrat jener Tage, die man im Nachhinein unter der Rubrik Ausschuss zusammenfassen konnte. Ausschusstage – so nannte sie Seiler, Tage, an denen sich scheinbar alles und jedes gegen den Besitzer dieses Tages verschworen hatte und nichts gelang. Seiler erinnerte sich noch ganz genau an jenen Sonntag, der damit begann, dass er nicht wie gewohnt kurz nach fünf von allein erwachte, sondern erst eine gute halbe Stunde später. »Die Kühe im Stall riefen bereits nach mir und dem Melkeimer. Eines der Tiere tänzelte, als es endlich an die Reihe kam, so sehr hin und her, dass es den halbvollen Eimer umwarf. Und der schepperte über den Steinboden, die Kuh erschrak, schlug aus und traf mich ausgerechnet am rechten Arm. Wegen dieses Treffers musste ich anschließend beim Frühstück das Brot mit der linken Hand abschneiden.« Hasso wusste, was jetzt kam: sein Herrchen schnitt sich in den Finger.
    » Als sie eine halbe Stunde später hinter dem Hügel auftauchte, hat sie schon von Weitem gerufen und gelacht. Weißt du, sie hatte eine Stimme – schöner als der Gesang jeder Lerche. Ganz rein. Und wenn sie lachte, war es so, als ob Goldstaub vom Himmel regnete. Sie kam angerannt und wusste natürlich weder etwas vom Tritt der Kuh noch von meinen Verletzungen. Sie rannte und ihr Zopf kam kaum nach und sie sprang in meine Arme. Aber statt sie in die Höhe zu heben und zu küssen, habe ich sie einfach fallen gelassen, weißt du, weil mein Arm so wehtat.« Hasso drehte den Kopf zur Seite, von ihm durfte der alte Mann keine Absolution erwarten. »Ich habe es ihr erklärt, aber eben erst, als sie vor mir am Boden lag. Und weißt du, was sie getan hat? Sie hat sich entschuldigt, kannst du dir das vorstellen? Ich hätte mich bei ihr entschuldigen müssen, aber nein, ich habe so getan, als hätte alles seine Richtigkeit so. Konnte sie etwas von meinem Verschlafen wissen? Nein. Etwas von der Kuh und dem Messer? Natürlich nicht. Aber ich habe dem schönsten Mädchen auf der ganzen Welt das Gefühl gegeben, sie sei an allem schuld.« Seiler schüttelte den Kopf. Er versuchte, einen Blick seiner Liebe zu erhaschen, sie aber starrte wie seit Jahrzehnten an ihm vorbei. Wie sie heute wohl aussah? Lebte sie überhaupt noch? Ein Jahr nach diesem letzten Sonntag hatte er in Bonndorf auf dem Markt eine Bäuerin aus Bettmaringen getroffen und den Mut aufgebracht, diese nach Mona-Lisa zu

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