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Apfeldiebe

Titel: Apfeldiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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fragen. Sie wusste nur, dass das Mädchen schon vor Monaten eine Stelle auf einem großen Hof in der Schweiz angenommen hatte. Hatte sie Kinder? Und wenn ja, liebte der Vater dieser Kinder seine Mona-Lisa so sehr wie er?
    Liebe. Seiler spuckte in sein Taschentuch. Was hatte sein Verhalten an diesem Tag mit Liebe zu tun gehabt? Er wusste die Antwort: Gar nichts.
    Mona-Lisa hatte ihn wegen seiner Blessuren ins Haus geschickt, seinen Finger verbunden und anschließend allein all die Arbeiten erledigt, die sie sonst gemeinsam taten: Sie hatte den Tieren frisches Stroh in den Stall geworfen und vorher den Mist hinters Haus gefahren. Sie hatte die Wohnung gefegt, seine Wäsche zusammengelegt, die Hühner versorgt und gerade, als sie mit einem Körbchen frischer Eier in die Küche kam …
    »… stand ich am Herd, weil ich uns einen Tee kochen wollte. Ich drehte mich um und, ich weiß nicht, ob sie mir ausweichen wollte oder ob ich an sie gestoßen bin, jedenfalls lagen plötzlich elf noch warme Eier am Küchenboden. Alle kaputt. Und, und … ach, du kennst ja die Geschichte.«
    Du dumme Nuss , hatte Seiler gesagt. Und der Liebe seines Lebens eine Ohrfeige gegeben.
    Ihren Blick würde er nie und nimmer vergessen. Wenn auch alle Steine seines Erinnerungsmosaiks eines Tages am Boden liegen würden, die Steine dieses Tages klebten und klebten und klebten. Erst der Vorschlaghammer, der sich Tod nannte, würde sie von der Wand reißen, das wusste Seiler. Vielleicht sehnte er sich deshalb so nach diesem Tod, um endlich zu vergessen, um einen Blick vergessen zu können, in dem alles Unverständnis, alle Enttäuschung dieser Welt lag. Sie konnte es nicht verstehen. Und der Mann, den sie liebte, erklärte ihr nichts. Er sah ihren Tränen zu und tat nichts, nicht einmal, als sie aus dem Haus ging. Er starrte nur auf die Schweinerei auf dem Küchenboden und Mona-Lisa verschwand hinter dem Hügel und niemand stand am Zaun und winkte ihr nach. Sie kam nie wieder und Seiler schämte sich so sehr, dass er nicht nach ihr suchte. »Ein dummer, alter Mann bin ich. Dumm.«
    Seiler schaltete den Fernseher ab, blieb aber vor dem Bild darauf stehen.
    Ja, du bist dumm. Und du hast bis heute nichts dazugelernt . Die Finger des alten Mannes zitterten.
    » Nichts gelernt? Du meinst, wegen der Kinder?« Sie antwortete nicht, Seiler aber wusste, dass es um die Kinder ging. Und um sein Schweigen. »Aber das ist doch etwas ganz anderes«, versuchte er sich zu rechtfertigen. Aber war es das wirklich? Alt zu werden bedeutete noch lange nicht, dass man sich dabei auch in ein besseres Wesen verwandelte, ganz im Gegenteil, denn der Körper, in dem man steckte, erzählte seinem Besitzer jeden Tag aufs Neue von der Sinnlosigkeit aller Bemühungen und Träume und Ideale. Alt werden bedeutete nur, Dinge sehen und erkennen zu können, welche die Scheuklappen der Jugend dahin gesperrt hatten, wo sie Seilers Meinung nach auch hingehörten, nämlich weg. Als junger Mensch hält man den Blick auf eine einzige Sache gerichtet und rechts und links davon existiert nichts, im Alter aber sieht man. Alles. Man sieht so viel gleichzeitig, dass all die Dinge ineinander über gehen, verschwimmen und man einfach nicht mehr sagen kann, was nun wahr ist und was erlogen, was wichtig ist und was nicht. Man wird alt und bereut all die Ideale und Träume der Jugend, die einen, weil man ihnen nachgelaufen ist und die anderen, weil man sie aus den Augen verloren hat. Alt zu werden heißt bereuen und verlieren und nie wieder . Das war das Alter und es hatte weder etwas mit Weisheit noch mit Milde und schon gar nichts mit Besserung zu tun.
    Und wenn doch? Willst du deinen Fehler wirklich noch einmal wiederholen?
    Seiler starrte Mona-Lisa an. »Ich überlege es mir, ja? Ich denk drüber nach. Versprochen.«

    Gernot Seiler ging zu Bett, löschte das Licht, konnte aber nicht einschlafen. Und so wie ihm erging es nur ein paar Häuser weiter auch der Enkelin vom alten Richard. Sie lag in ihrem Bett und starrte auf die leuchtenden Sterne an der Zimmerdecke. Alex fehlte ihr.
    Zuerst hatte Leni die Abwesenheit des großen Bruders bei aller Angst um ihn trotzdem ein ganz klein wenig genossen. Sie durfte fernsehen und kein Alex kam herein und schaltete auf dumme Pokersendungen um. Sie konnte ungestört ihre Serien anschauen und bei all der Aufregung, die dem Verschwinden der Jungs folgte, vergaßen Lenis Eltern sogar, auf die Uhr zu schauen und wie üblich den Fernseher nach einer Stunde

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