Apfeldiebe
der Spinne einen Stups und lächelte bei der Vorstellung, dass Maden das i-Pünktchen zerfressen würden, genau so, wie sie wohl bald auch Rufus aushöhlten. Zuerst den Punkt, dann den Strich, am längsten dürfte das W überleben, zusammen mit Rufus’ Knochen.
In den letzten Stunden hatte Max immer wieder kurz die Lampe angeschaltet und die Spinne betrachtet. Was sie hier unten zu suchen hatte, wovon sie sich ernährte – diese Fragen konnte er nicht beantworten, inzwischen wollte er es auch nicht mehr. Er wünschte sich nur, dass das Tierchen etwas größer wäre, vielleicht von den Ausmaßen eines Huhnes oder so. Er hatte Hunger, obwohl das Wort Hunger mittlerweile nicht mehr den Nagel auf den Kopf traf. Als Hunger hatte er dieses Gefühl die ersten Tage bezeichnen können, ein Gefühl, welches jeden anderen Gedanken verdrängte, sich aufspielte und im Mittelpunkt stehen wollte, jetzt aber konnte Max wieder denken, an etwas anderes denken als an Essen und diese Erkenntnis machte ihm Angst.
Das Licht verlosch, obwohl Max’ Finger den kleinen Schalter nicht berührt hatten. Trotzdem schaltete er nun ein paar Mal an und aus – ohne Erfolg. War es das jetzt? Sollte das Letzte, was er in seinem Leben gesehen hatte, eine winzige Spinne gewesen sein?
Max setzte sich, drehte die Lampe um und schraubte sie auf, schüttete die drei dicken Batterien in seinen Schoß. Eine nach der anderen hauchte er sie an und rieb, zuerst mit den Fingern, zuletzt mit seinem Shirt, über die beiden Kontakte – ein Notarzt für Batterien. Und dieser Notarzt schaffte es zwar nicht, seinen Patienten mit neuer Energie zu versorgen, aber er mobilisierte ein letztes Mal alles, was in diesem noch steckte, alles an Kraft, Energie und Leben. Ja, die Spinne hielt er für wertvoll genug, dieses letzte Licht zu erhalten! Sie sollte der letzte Anblick seines Lebens sein. Und – Max erinnerte sich an eine Survival-Show im Fernsehen – seine letzte Mahlzeit. Dem Gewinner im Fernsehen winkte damals eine Million, und ihm?
Max verschloss die Lampe, betete um einen einzigen letzten Lichtstrahl und – erhielt diesen. Max konnte seine im Schritt fleckige Hose sehen, Hände mit so kurz geknabberten Nägeln, dass kein Staubkorn sich unter diesen verstecken und schwarze Ränder bilden konnte. Aber was interessierten ihn Hose und Hände? Max krabbelte zur Wand und fand seine Freundin. Schlief sie? Sah sie ihn an, wunderte sie sich über das Dämmerlicht und dieses seltsame Wesen, welches sie in ihrem ganzen langen Leben hier unten noch nie gesehen hatte? Schade, dass er kein Feuerzeug besaß, er hätte sie rösten können wie ein Hühnchen. Knusprige Haut mit reichlich Maggi gewürzt.
Max schluckte. Seine Hand zitterte, als er sie nach dem Tier ausstreckte. Hoffentlich rannte es nicht davon!
» Bleib bei mir«, flüsterte Max und versperrte der Spinne mit dem Zeigefinger den Fluchtweg. »Komm, nicht weglaufen, meine Schöne«, wobei er nicht einmal lügen musste, denn etwas Schöneres als dieses Tierchen hatte er im Leben noch nicht gesehen. Ihr Körper, vor allem aber ihre Beine, leuchteten im Lampenlicht. Wie auf einem Röntgenbild , dachte Max, obwohl er noch niemals ein echtes Röntgenbild gesehen hatte. Aber er wusste, dass diese Bilder Dinge sichtbar machten, die unter der Haut lagen, vergraben im Fleisch. Er konnte die Gelenke der Spinnenbeine erkennen, winzige Härchen und etwas an ihrem Kopf, das wie Augen aussah, dazwischen eine Zange oder etwas in der Art. Konnte sie ihn sehen? Ahnte sie etwas? Ersteres schien möglich, wenn Max auch bezweifelte, dass die Spinne ihn so sah wie er wirklich war. Vielleicht sah sie das Kind verzerrt, wie durch den Boden einer Glasflasche hindurch oder nur als ein Puzzle verschieden großer Farbtupfer, die sich in ihrem Kopf einfach nicht zu einem erkennbaren Wesen zusammensetzen wollten. Max fand es amüsant, dass dieses Tierchen da an der Wand saß, ihn anstarrte, nichts verstand und sich dabei in keiner Weise der Gefahr bewusst schien, in der es schwebte. Denn – Antwort auf die zweite Frage – würde sie etwas ahnen, bräuchte sie ihren acht Füßen nur zu befehlen, die Haftung zu verlieren. Aber sie tat es nicht.
Pech gehabt.
Max’ Gesicht näherte sich der Wand, er öffnete den Mund, streckte die Zunge heraus, spürte eine Bewegung, ein Kitzeln, die Lippen schlossen sich und an der Stelle, an der bis eben noch das Tier gesessen hatte, klebte nun als minderwertiges Tauschobjekt etwas Speichel – einer
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