Apfeldiebe
Leder in ganz dünne Streifen schneiden und dann darauf herumkauen.«
» Schmeckt das?«, fragte Timi. In der Stimme des Jüngsten schwang Hoffnung. Er hatte in den Stunden seit der Rückkehr seines Bruders kaum ein Wort gesprochen. Obwohl er noch am kräftigsten zu sein schien, fiel ihm, wie Alex von seinem erhöhten Posten aus beobachtet hatte, die Arbeit immer schwerer. Der Vergleich einer brennenden Kerze drängte sich auf, einer Kerze, die kurz vor dem Verlöschen noch ein letztes Mal, so hell wie während des ganzen langen Abbrennens nicht, aufflackerte, um schließlich zu verlöschen. Wie lange hielt so ein Timidocht? Und was kam danach?
» Ob es schmeckt, weiß ich nicht, hab es noch nie probiert. Aber Leder kommt von Tieren und die essen wir ja schließlich auch.« Oder bist du Vegetarier? , wollte er noch fragen, verkniff es sich aber. Max und Vegetarier! Aber – so Kasis nächster Gedanke –, angenommen, jemand in ihrer Situation wäre tatsächlich Vegetarier, was machte der dann jetzt? Sah er zu und verhungerte mit reinem Gewissen, während alle anderen an Schuhsohlen kauend überlebten?
» Es gibt da nur ein kleines Problem, wenn ich mich richtig erinnere«, sagte Alex und nahm die Lampe.
» Was für ein Problem?«, wollte Max wissen.
Alex strahlte zuerst Kasis Schuhe an. Von da wanderte der Lichtkegel weiter zu Max’, Timis und schließlich zu den eigenen Füßen. Alex nickte.
» War gut gemeint, Kasi«, sagte er, »aber keiner von uns trägt Leder schuhe.« Die Kinder betrachteten gegenseitig ihr Schuhwerk: bunte Kunststoffteile, versehen mit den kaufentscheidenden Schriftzügen des jeweiligen Herstellers. Timis Schultern sackten nach unten und Alex meinte, dass sich die Schatten unter den Augen des Kleinen weiter verdunkelten. Auch Kasi fiel in sich zusammen. Er griff sich an die verletzte Schulter und streichelte diese, starrte dabei auf seine Füße und durch diese hindurch. Plötzlich aber leuchteten seine Augen, er sprang auf und am Brunnen vorbei zu seinem Rucksack.
» Den können wir essen!«, sagte er und hielt ihn in die Höhe. »Teilweise jedenfalls.« Und tatsächlich, beide Trageriemen und der Boden bestanden aus Leder. Kasi warf seinen Rucksack quer durch den Raum, Alex fing ihn auf. Sie starrten auf diesen Schatz, selbst Max, der nur Timi zuliebe seine Skepsis über all dieses nutzlosen Tun nicht lauthals herausschrie, konnte nicht verhindern, dass ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Er schluckte und rutschte ein kleines Stück näher. Am liebsten hätten sie sich alle sofort auf diese unerwartete Mahlzeit gestürzt, sich darum gebalgt, sie sich in den Mund gestopft, nur um noch ein paar Stunden mehr hier unten leben und hoffen zu dürfen. Am Schluss knieten die Kinder im Kreis um den Rucksack. Alex hielt sein Taschenmesser in der Hand – ein Schlachter, der, bevor er das Leben des Opfers beendete, ein kleines Gebet dachte.
» Darf ich wirklich?«, fragte er mit einem Blick auf Kasi. »Der war bestimmt nicht billig.« Kasi konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. »Also dann.«
Alex der Schlachter beendete das Rucksackleben und zerschnitt einen der beiden Trageriemen. Anschließend suchte er sich einen möglichst flachen Stein, legte diesen vor sich auf den Boden und den Riemen darauf. Das erste Stück bekam Timi, einen zwei Zentimeter breiten Streifen (Filet?), den sich der Kleine sofort in den Mund steckte.
» Du musst dünner schneiden«, sagte Kasi, »ungefähr so«, seine Finger zeigten einen kaum noch sichtbaren Spalt. »Als ob du Speck schneidest.«
Die folgenden Streifen schaffte Alex tatsächlich hauchdünn und nach vier weiteren Schnitten kaute jedes der Kinder im Dunkeln auf einem nach Kasis Rucksack schmeckenden Kaugummi herum.
» Ich kann das nicht runterschlucken«, unterbrach Max schließlich das Schweigen. Er spuckte aus und tastete nach Timis Flasche. »Das Zeug verstopft einem höchstens den Magen. Haben die Typen das eigentlich überlebt? Ich meine die, von denen du angeblich gelesen hast?« Kasi ignorierte die versteckte Anschuldigung, er lüge.
» Natürlich haben ein paar überlebt, sonst hätten sie ja wohl kaum ein Buch darüber schreiben können«, sagte er. »Außerdem habe ich ja nicht gesagt, dass es gut schmeckt oder weich ist. Aber es ist wenigstens etwas Essbares.« Er kaute weiter und schluckte den schmalen Streifen schließlich herunter. Auch Alex hatte mittlerweile die Vorspeise bewältigt und machte sich nun daran, den Hauptgang zu
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