Apfeldiebe
fünf Kinder, trotzdem wusste er, dass Selbstvorwürfe auf ihn warteten, sollte einem von ihnen etwas geschehen.
» Manchmal muss man eben über den eigenen Schatten springen«, erklärte Seiler seinem Hund. »Blöder Spruch, als ob das ginge. Aber weißt du, was mir letzte Nacht klar geworden ist? Dass man am einfachsten über den eigenen Schatten springt, indem man sich umdreht. Ich hätte mich damals nach ihr umdrehen sollen, dann hätte ich diesen Schatten hinter mir gehabt. Aber so …« So hatte er ein ganzes Leben bei jedem Schritt auf eben diesen Schatten gestarrt und sich immer weiter von Mona-Lisa entfernt, was auch nicht half. Ganz im Gegenteil, denn jeder Schritt weg vom Licht seines Lebens hatte diesen vor ihm hergehenden Schatten noch mehr in die Länge gezogen. Und noch ein Stück.
Wie konnte man nur so dumm sein?! Seiler schüttelte den Kopf über so viel Einfalt. Man musste sich nur umdrehen! Diese Erkenntnis hatte ihn heute Morgen früher als gewohnt aus dem Bett getrieben und mit einem Hauch Euphorie übergossen. Auch nach fünfzig Jahren konnte er sich noch umdrehen, was hinderte ihn daran? Nur die eigene Borniertheit, verletzter Stolz. Nur der sorgsam gefütterte Dieb, der Tag für Tag das eigene Leben stahl: Scham. Zuerst das mit diesen Kindern klären und danach …
In Seilers Bauch kribbelte es. Er fühlte sich stark und hatte heute, abgesehen von dem Fluch gegen den Motorradfahrer – aber diesen hatte der verdient –, den ganzen Tag noch nichts Schlechtes gedacht. Selbst der ersehnte eigene Todestag spielte heute in seinem Denken keine Rolle, ganz im Gegenteil. Die Aussicht, bald nach Bettmaringen hinüberzugehen und da mit seiner Suche nach Mona-Lisa zu beginnen, erfüllte ihn mit Vorfreude. Aufgeregt wie ein kleiner Junge am Weihnachtsabend, schlich sein Denken heute um diesen Vorsatz und das Schönste dabei: Seiler wusste, dass er damit das Richtige tat, sehr, sehr spät vielleicht, aber eben noch nicht zu spät. Hoffte er. Denn in einem halben Menschenleben konnte viel passieren und vielleicht gab es längst keine Mona-Lisa mehr.
» Aber dann hab ich’s wenigstens doch noch versucht.« Und vielleicht wird es anschließend mit diesen Selbstvorwürfen etwas besser , fügte er in Gedanken hinzu, Hasso musste schließlich nicht alles wissen.
Seiler reinigte das Messer im Gras und klappte es zusammen. Kurz überlegte er, ob er vielleicht wieder einmal barfuß gehen sollte, entschied sich aber für die sichere Variante. So ein kleines Steinchen konnte böse Folgen haben, gerade in seinem Alter. Er pfiff Hasso aus dem Wasser, schimpfte nicht einmal, als der sich (Absicht?) direkt neben seinem Herrn die Tropfen aus dem Fell schüttelte und schulterte den Rucksack.
Zurück auf dem Weg, überlegte Seiler zum hundertsten Male, was die Kinder vor vier Tagen hier heruntergelockt haben könnte. Es gab diese beiden Ruinen – sicher, ein gerade für Jungen in ihrem Alter verlockendes Ziel. Seiler selbst hatte als Kind beide Gemäuer mehr als nur einmal besucht, auch wenn ihn persönlich die deutlich kleineren und längst nicht so gut erhaltenen Reste der Burg Steinegg weitaus mehr angezogen hatten als ihr Gegenüber. Woran dies lag? »Was weiß denn ich.« Seiner Meinung nach verhielt es sich mit diesen beiden Ruinen da wie mit zwei Menschen oder zwei Städten oder auch Räumen. Man sah einen Menschen, betrat einen Raum oder eine neue Stadt und fühlte sich sofort wohl, in einer nicht so recht fassbaren Weise zu Hause. Und bei anderen Menschen, Orten und Räumen war genau das Gegenteil der Fall, ohne dass man dabei sagen konnte, was genau einen da so maßlos störte. Aura. Ja, entschied Seiler, Aura konnte das richtige Wort sein. Die eigene Aura und die der Steinegger Burg – das hatte gepasst.
Sollten die Kinder an den Ruinen gespielt haben, wieso hatte der Hubschrauber sie dann nicht entdeckt?
Seiler blieb stehen und drehte den Kopf zu den zwischen Baumwipfeln auf den Wanderer herabsehenden Bauten. Er kannte die schmalen, von Unkraut überwucherten Wege hinauf und verspürte wenig Lust, den Ruinen einen persönlichen Besuch abzustatten. Wahrscheinlich wäre dies eh ein überflüssiger Besuch, denn wie sollte ein alter Mann mehr erkennen können als ein Hubschrauber? Was, wenn sie den Weg über Steina und Straße hinauf Richtung Ebnet genommen hatten? Da oben gab es eine Wanderhütte, vielleicht steckten sie dort? Aber Seiler schüttelte sofort den Kopf und entschied auch diese Möglichkeit
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