Apfeldiebe
würde den Rucksack und alles darin erkennen. So musste Seiler die von ihm beobachtete Kinderkarawane mit keinem Wort erwähnen und auch nichts erklären. Zufall, dass er das Ding gefunden hatte – da habt ihr ihn, macht damit, was ihr wollt, findet die Ausreißer oder eben auch nicht, aber lasst den alten Gernot Seiler bitte schön in Ruhe. Wunderbar.
So von einem Gefühl der Hochstimmung getragen, hatten Seiler und Hasso fast schon den Wanderparkplatz erreicht, als rechter Hand ein kaum noch zu erkennender Trampelpfad abzweigte. Seiler blieb stehen. Er kannte den Weg, dieser führte geradewegs hinauf zur Steinegg und von da aus auf dem Höhenrücken, an dessen vorderster Kante die Ruine über dem Steinatal thronte, bis nach Wittlekofen. Ein winziger Umweg nur, dachte Seiler. Vielleicht gab es da oben noch mehr Hinweise auf den Verbleib der Kinder? Oder die Kinder selbst. Sie könnten ihm erklären, warum dieser schwarze Junge seinen Rucksack versteckt hatte, könnten auf dem gemeinsamen Rückweg ins Dorf erzählen, wovon sie sich die vergangenen Tage eigentlich ernährt hatten, was sie sich bei diesem Spiel gedacht hatten. Das würde Ärger geben, wusste Seiler und bog nach rechts ab. Nicht nur die eigenen Eltern werden den Bengeln die Ohren lang ziehen, nein, das richtige Spektakel werden die von der Polizei veranstalten. Geschieht ihnen recht, freute sich der alte Mann, und dachte an die ungezählten Streiche der Kinder, den Diebstahl seiner Äpfel und Birnen und die Untätigkeit der Eltern dieser kleinen Diebe.
Der fast gerade den Hang hinaufführende Weg erwies sich doch als steiler, vor allem aber als zugewachsener, als Seiler in Erinnerung hatte. Kaum ein Wanderer verirrte sich auf das alte Gemäuer und die wenigen Spaziergänger und ihre Hunde bevorzugten den paarlauftauglichen Weg die Steina entlang zur Roggenbacher Ruine. Seiler sah zur Sonne hinauf – so gegen zwei schätzte er, also kein Grund zur Eile. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und suchte einen Stock aus dem Unterholz. Mit diesem als Stütze ging es leichter und nach einer weiteren halben Stunde, in der er zuletzt vor lauter Brombeergestrüpp und Brennnesseln kaum noch vorwärts kam, erreichte er endlich die ersten Steine des vergessenen Gemäuers.
Die im Gegensatz zu ihrer Schwesterburg nur schwer zu erreichende Ruine besaß keinerlei touristische oder kulturhistorische Bedeutung, falls doch, interessierte sich aber niemand dafür. Seiler stieg auf einen Mauerrest. Ja, da drüben auf der Schwesterburg, da hatte jemand eine Treppe gebaut und auch der von der Straße aus einsehbare Hang des Burghügels wurde regelmäßig von Bäumen befreit. Die Steinegg jedoch ließ man zuwachsen. Aber gut, viel gab es hier auch nicht mehr zu bewahren: die Reste eines Turmes, Mauerwerk, welches wohl einmal ein Gebäude gewesen sein mochte, die Überbleibsel der einstigen Einfriedung – damit hatte es sich dann auch schon.
Seiler betrachtete die ihm einmal so vertrauten Relikte. Wie durch ein Loch in der Zeit gestolpert, verwandelte er sich dabei zurück in ein Kind. Der Krieg hatte ein Ende gefunden und dieses Ende den Himmel von Tieffliegern und Bomberstaffeln gereinigt. Nach und nach kehrten Väter und Ehemänner zurück, nicht alle, aber viele. Sein Vater nicht. Hier oben hatte Seiler oft stundenlang gesessen und an diesen Vater gedacht, an den großen, starken Mann in Uniform, der ihn in die Luft geworfen hatte und vor seinem Sohn salutierte. Alles sah hier noch genau so aus wie damals.
Hasso hechelte. Er suchte sich einen Platz im Schatten und sein Herrchen folgte ihm. Seiler setzte sich an den Fuß des Turmes. Die von Flechten und Moos im Laufe der Jahre mit einem grünen Film überzogenen Steine bekamen nur in den Morgenstunden ein wenig Sonne ab. Hund und Mann suchten die Nähe dieser Steine und genossen die in ihnen gespeicherte Kühle.
» Sieht nicht so aus, als ob die Bengel hier waren, was?« Nirgends abgebrochene Äste, keine zu Türmchen aufgestapelte Steine, keine Lagerfeuerreste. Seiler war wohl der erste Besucher seit Wochen, wenn nicht seit Monaten. »Schade. Hätte sie gerne ins Dorf geführt und mir ein paar der Ohrfeigen angesehen, die dort auf sie warten.« Na gut, man konnte im Leben eben nicht alles haben. Das Wichtigste – überhaupt einen Hinweis zu entdecken und mit diesem das eigene Fehlverhalten zu übertünchen – hatte er geschafft. Seine Arbeit war damit erledigt, morgen gab es etwas noch Wichtigeres zu
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