Apfeldiebe
tun.
Seiler schüttete sich etwas Wasser auf die Hand und hielt diese Hasso hin, danach trank er. Sein krummer Rücken schmerzte, aber hier zwischen Steinen und Erinnerungen zu sitzen tat gut. Seiler empfand es beinahe wie ein Nachhausekommen. Oder wie das Finden eines Spielzeuges, eines nie vermissten oder gar mit einer Erinnerung bedachten Gegenstandes aus Kindertagen, das einem ganz unvermutet in die Hände fällt und eine nicht enden wollende Spieluhr voller Bilder, Gerüche und Töne in Gang setzt. Seilers Spieluhr drehte sich, während er einen Apfel zerschnitt und Stück für Stück im Mund verschwinden ließ. Er fühlte sich wohl, trotz der Schmerzen im Rücken. In einem ihm nicht so richtig greifbaren Sinne fühlte er sich zufrieden und mit sich selbst im Reinen. Und dieses Kribbeln in der Magengegend hatte den Weg zurück zu ihm gefunden. Er lächelte, steckte das Messer neben sich ins Gras und freute sich.
» Morgen wird die Welt verändert, Hasso.« Der Hund öffnete ein Auge. »Morgen suchen wir sie.« Endlich wieder ein Ziel, eine Hoffnung. Er hoffte, sie zu finden und er hoffte, dass sie ihm verzeihen konnte. Mehr nicht, aber auch nicht weniger. Mit dieser Hoffnung im Kopf und eingelullt von der Spieluhr seiner Kindheit, schlief Seiler ein.
31 Das Bild
» Lieber Gott. Bitte mach doch, dass Leni alles verrät.« Timi klammerte sich an seinen Super-Jesus, mit gefalteten Händen und die Augen geschlossen. Auf Letzteres hätte er allerdings auch gut verzichten dürfen, denn ob er nun die Augen öffnete oder schloss, die Dunkelheit blieb die gleiche. Kasis Kurbellampe lag zwischen den Kindern, lichtlos, und keines der Kinder hatte protestiert, als Alex sie vorhin ausgeschaltet hatte. Wozu noch Licht?
Einer nach dem anderen hatten die Kinder den Kopf in den Gang gesteckt und sich von der Endgültigkeit seines Endes überzeugt. Konnte es wirklich sein, dass die ganze Arbeit der vergangenen Tage an einer Felswand endete? Einfach so? Die Türe vor der Nase zugeschlagen, abgeschlossen und den Schlüssel weggeworfen?
Kasi hatte schließlich vorgeschlagen, die Schutthalde noch weiter abzutragen und den Gang so ein Stück tiefer zu legen. Vielleicht könnte man auf diesem Weg unter der abgeschlossenen Tür hindurchkriechen. Doch es blieb nur ein Vorschlag, denn keiner der Jungen besaß noch Kraftreserven, weder körperlich noch mental. Den Gang zu graben, all das Geröll zur Seite zu schleppen und zwischendurch immer wieder das Seil aus dem Brunnen zu ziehen, hatte die Kinder bis an den Rand des körperlichen Zusammenbruchs getrieben, die Hoffnung aber, mit ihrer Arbeit diesem Gefängnis entfliehen zu können, hatte ihnen immer wieder neue Kraft gegeben. Jetzt aber lagen sie nebeneinander, ohne Hoffnung und damit auch ohne Kraft. Wozu noch einmal von vorn beginnen? Sie würden es ja doch nicht mehr schaffen. Tiefer zu graben bedeutete gleichzeitig, auch viel mehr Schutt abtragen zu müssen, Alex schätzte grob die vierfache Menge. Lächerlich. Schon jetzt konnte sich Timi kaum noch auf den Beinen halten, schon jetzt stolperte der einarmige Kasimir immer wieder über umherliegende Steine, behauptete zwar, es läge an der fehlenden Brille, Alex aber wusste, dass der Grund wohl eher in seinen nachlassenden Kräften zu suchen war. Ein Wunder überhaupt, dass Kasi so lange durchgehalten hatte, trotz seines verletzten Armes. Obwohl sich dessen Zustand seit der Urinkur deutlich gebessert hatte, lagen trotzdem noch Äonen zwischen dem Jetzt und einem normalen, einsatzfähigen Arm. Vorhin hatte Kasi in das Toilettenfass uriniert, statt die Tropfen aufzufangen und seinen Verband damit zu tränken. Alex hatte es gesehen, aber nichts gesagt, wozu auch? Wozu sollte Kasi noch seine Wunde pflegen, bevor diese verheilt wäre, lagen hier unten schon fünf mausetote Kinder, abgemagert bis auf die Knochen und mit toten Augen – Material für die Abenteurer von Übermorgen.
» Lieber Jesus, mach bitte ein Wunder, du kannst das do …«
» Halt die Klappe, Timi, bitte halt die Klappe.« Zusammen mit diesen Worten versetzte Max seinem Bruder einen Stoß in die Seite. Timis Gebet brach ab.
» Lass ihn doch«, sagte Alex, »vielleicht hilft es ja.«
» Ja klar, beten hilft. Und morgen fliegen gebratene Tauben durch die Luft, ich weiß.« Max griff in den neben ihm liegenden Dreck und warf eine Handvoll Steinchen zur Seite. »Ich hab es euch von Anfang an gesagt: Wir kommen hier nicht raus!« Diesmal widersprach keiner, aber
Weitere Kostenlose Bücher