Apfeldiebe
ärgern.
Timi sah seinen Bruder mit leuchtenden Augen an. Danke , sagten sie und die Tränen stiegen schon wieder in ihm auf.
» Geht doch«, sagte Alex und gab Timi den Fackelrest. »Hier, du darfst anfangen, wenn du willst.« Timi nickte und nahm den Stift . »Aber mal dich nicht so riesig, wir wollen auch noch danebenpassen.« Timi maß zwischen seinen Händen eine Spanne von gut vierzig Zentimetern ab.
» So?« Alex nickte.
» Ja, das passt. Denk aber dran, dass unsere Namen noch untendrunter müssen.«
» Muss das sein?«, fragte Max. »Meinst du nicht, dass es auch so reicht?« Aber Alex schüttelte wie erwartet den Kopf.
» Lieber mit Namen, dann wissen sie später wenigstens ganz genau, wer wer ist auf dem Bild.«
Timi begann mit einer dicken senkrechten Linie – seinem Körper. An das obere Ende dieses Striches malte er ein Ei, welches er mit zwei Augen und einem lachendem Mund in das eigene Gesicht verwandelte.
» Gut so?«, fragte er, drehte sich um und sah zu Kasi. Der nickte und Timi arbeitete weiter. Er hatte in seinem Leben schon Hunderte Strichmännchen gemalt, aber noch niemals solch ein großes und noch nie auf einem so riesigen Blatt mit einem so kratzigen Stift . Aber es ging und ihm gefiel es. Wenn dieses Bild erst einmal fertig sein würde und jedes Männchen einen Namen besaß, dann konnten sie, so Timi, nicht mehr richtig sterben. Etwas von ihnen würde dann zurückbleiben und wahrscheinlich ewig leben, wie diese Höhlenbilder, die Steinzeitmenschen vor Tausenden Jahren gemalt hatten und die es immer noch gab. Die Menschen existierten nicht mehr, aber ihre Bilder und deshalb lebten diese Menschen irgendwie auch noch, so Timi.
» Am meisten Angst hatte ich dort oben immer vor der Dunkelheit. Und davor, dass Mama oder Papa oder Max etwas zustoßen könnte. Oder mir. Und manchmal habe ich auch Angst davor, dass mein Papa genauso wie der richtige Papa von Max irgendwann weggeht. Ist doch komisch, oder?« Timi erwartete keine Antwort, redete sofort weiter. »Jetzt sitzen wir hier unten, es ist dunkel und ich werde meine Eltern nie wiedersehen.« Timi zeichnete sein rechtes Bein, es sah aus wie ein Halbmond mit einem Haken am unteren Ende. »Ich will nicht tot sein. Ich will lieber in meinem Bett liegen und mich vor der Nacht fürchten und dass uns etwas passiert.« Es folgte das linke Bein und schließlich beide Arme, zum Schluss setzte er seinen Namen darunter, auf der Seite stehend und von unten nach oben zu lesen.
» Sieht richtig gut aus«, sagte Alex und klopfte dem Jüngsten auf die Schulter.
» Wirklich?«
» Ganz ehrlich.« Alle nickten. Timi freute sich, trotz seiner Ängste. Aber Alex ließ ihm keine Zeit sich zu freuen, er nahm ihm den Stift aus der Hand und reichte diesen an Kasi weiter. »Jetzt du.«
Kasimir wusste, dass er seine Eltern irgendwann wiedersehen würde, entweder wenn die Decke sich öffnete, Licht und Erwachsengesichter herabsahen und sie retteten oder aber dann eben im Himmel. Es gab einen Gott! Und es gab einen Himmel! Und es gab ein Leben nach dem Tod! Es musste so sein!
In Kasis Leben hatte es bisher wenig Anlass gegeben, über den Wahrheitsgehalt dessen, was seine Eltern ihm Tag für Tag erzählten und vorlasen, nachzudenken, geschweige denn daran zu zweifeln. Er war mit diesem Glauben, mit seinem Wissen um Gott und allem, was dazugehörte, aufgewachsen und im Denken des Jungen stellten Gott, Himmel und das Leben nach dem Tod Wahrheiten dar, Wahrheiten zwar, welche er nicht beweisen konnte – auch gab es keine Bilder dieser Wahrheiten –, trotzdem existierten sie und als Kasi jetzt von Alex den Stift empfing, spürte er Gottes Anwesenheit. In seinem Nacken sträubten sich mit einem Mal die Härchen und ein Schauer lief ihm über Rücken und Arme. Kasi drehte sich um, aber niemand stand hinter ihm. Alle saßen oder standen sie auf ihren Plätzen und einzig Kasi spürte Gottes Atem. Kasi lächelte, wandte sich der Leinwand zu und setzte den schwarzen Fackelrest an. Er wusste, dieses Bild hier würde Gott gefallen! Gott liebte es, wenn die Menschen zusammenhielten und er hasste es, wenn sie sich stritten und sich schlugen. Aber das alles lag jetzt hinter den Kindern.
» Ich hatte im richtigen Leben immer Angst vor einem Krieg. Oder einem Tsunami.«
» Müsste ein ziemlich großer Tsunami sein, wenn er uns Angst einjagen will«, warf Max ein, Kasi aber fuhr in seinem Monolog fort, als gäbe es gar keinen Max und auch keinen Timi, keinen Alex. Er
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