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Apfeldiebe

Titel: Apfeldiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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zeichnete und es existierten nur der (noch) lebendige Kasi und sein entstehendes Strichebenbild und mit ebendiesem unterhielt er sich. »Und ich hatte Angst vor Meteoriten, also dass irgendwann einmal einer auf unser Dorf stürzt und uns alle auslöscht, dass ich als Einziger überlebe und meine Eltern tot unter dem Haus liegen und …«
    Timis Blicke hingen an Kasis Hand, folgten dieser von oben nach unten, vollführten einen Kreis, als Kasimir einen Kreis zeichnete. Er hörte Kasi zu ohne wirklich etwas zu hören, ohne zu verstehen. In seinen Ohren steckten vom Druck in seinem Kopf geformte Stöpsel und ein Tränenschleier verwischte die Linien, die Kasi zeichnete. Malte Kasi einen toten Kasi neben den bereits toten Timi an die Wand? Bisher, so dachte Timi, bisher hatten sie allesamt gelebt, wenn man einmal von Rufus absah. Sie lebten noch, jetzt aber verewigte einer nach dem anderen den eigenen imaginären Grabstein über einem ebenso imaginären Grab. Sie starben, einer nach dem anderen. Sie starben, indem sie ihre Skelette an die Wand warfen. Wer einen letzten Gruß zeichnete, hatte sich abgefunden und wer sich abgefunden hatte, war bereits zur Hälfte am Ziel. Sollte es das jetzt wirklich gewesen sein?
    Timi wischte sich die Tränen weg, aber der kleine, magere Timi da am Fels und der inzwischen fast vollendete Kasi sahen dadurch nicht lebendiger aus, ganz im Gegenteil. Unter dem Schleier aus Tränen hatten sie sich wenigstens noch bewegt, jetzt aber hielten sie still und die Tränen kamen zurück. Sterben? Jetzt schon? Einfach nicht mehr da sein, obwohl das Leben dort oben immer noch weiterging? Niemals wieder in Mamas Armen liegen? Nie wieder in einen Kaugummi beißen, ihn unter die Schulbank kleben und da vergessen und sich Wochen später über das im Mund zerkrümelnde Etwas freuen? Nie wieder vor Seilers Hund davonlaufen?
    Timi vergrub das Gesicht in seinen Händen. So viele Nie wieder , so viel Endgültigkeit – zu viel für einen Achtjährigen.
    Plötzlich hob Timi den Kopf. Zuerst starrte er auf den Kasi an der Wand, der inzwischen den kleinen mageren Timi neben sich an der Strichmännchenhand hielt und lächelte, als träfen sich die Kinder da auf dem Fels zu einem Sonntagnachmittagspiel und nicht zum Sterben. Timis Augen wanderten über Kasimirs Rücken und dessen immer noch viel zu dicke Schulter und weiter zu Alex, der, den Kopf in die Hand gestützt, dem für immer und ewig unentdeckt bleibenden Künstler bei der Arbeit zusah. Alex’ Augen lagen tief, fand Timi, viel tiefer als sonst, als seien diese bereits auf halbem Wege in ihr Grab und von diesen Augen führten dünne helle Linien durch den Staub auf der Haut des Großen zu dessen Kinn. Alex hatte geweint und bestimmt fanden sich ebensolche Linien auch auf Max’ Wangen, der aber drehte dem Bruder den Rücken zu, wirkte im Halbschatten eher wie ein (Grab-)Stein denn wie ein lebendiges Kind. Hier die sich gerade verdoppelnden Kinder und da der Schutt, eine Gefängnistür aus Staub und Geröll und Fels. Aufgeben? Sterben? Sich abfinden?
    Gerade als Kasi sich umdrehte – dabei unverhohlen seinen Stolz über das soeben vollendete Kunstwerk in die Gruft lächelte – und Alex den Stift geben wollte, sprang der Jüngste der kleinen Gruppe auf. Timi rannte zwischen Max und dem abgedeckten Brunnenschacht hindurch, kletterte auf die Geröllhalde und bevor einer der Großen etwas sagen konnte, kauerte Timi schon unter der Decke und warf, was er zu packen bekam und wozu seine wenigen noch verbliebenen Kräfte ausreichten, nach unten.
    » Spinnst du?!« Ein Stein verfehlte Max nur um wenige Zentimeter. Max sprang auf und zwei Schritte zurück. »He, hör auf!« Aber Timi dachte nicht im Entferntesten an Aufgabe. Er wollte raus! Timi wollte leben, wollte den Sommer riechen, wollte zum ersten Mal in seinem Leben freiwillig und gern in die Schule gehen, wollte Kaugummis kauen und laufen, laufen, laufen. Stein um Stein rollte nach unten. Schon nach wenigen Sekunden lief kranker Schweiß ihm in Strömen über den Körper, bluteten Timis Hände, er aber merkte nichts. Er spürte weder seine Fingernägel abbrechen noch die Haut seiner Hände platzen. Timi spürte das Leben, vielleicht ein allerletztes Mal. Leben. Was interessierten da die aufgescheuerten Knie, von denen Blut an dem Geröll, auf dem er arbeitete, kleben blieb?
    Leben!
    » Ich will nicht sterben!«, schrie er, packte einen Stein und schleuderte ihn nach unten, und Timis Wut, seine Verzweiflung

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