Apfeldiebe
der ihm auf dem Herz rumgedrückt hatte, hatte ’ne dicke Auszeichnung erhalten.
» Der war doch auch tot. Aber darüber, wie das ist, dieses Totsein, habe ich von ihm nie was gelesen.«
» Wer weiß, vielleicht hat er nichts erlebt, vielleicht will er auch nicht drüber reden. In dem Buch jedenfalls erzählen die Leute, dass sie so etwas wie ein Licht gesehen haben und dass sie sich glücklich gefühlt haben und gar nicht wieder zurückgewollt hätten.«
» Zurück?«
» Na, eben hierher, ins richtige Leben.«
Alex kurbelte neues Licht in ihr Gefängnis und versuchte, sich das aus dem Buch irgendwie vorzustellen, aber es wollte und wollte nicht klappen. Wie kam man zu diesem Licht und vor allem: was? Der Körper blieb doch hier! Was also verschwand dann in dieses Glück?
» Hast du das selbst gelesen?« Kasi schüttelte den Kopf.
» Nein«, sagte er, »mein Vater hat es mir vorgelesen.« Natürlich, dieser tolle Vater. Er ging nicht nur mit in den Wald und erklärte alles Mögliche, er las auch noch Gruselgeschichten vor. »Letztes Jahr hatte ich ziemlich oft Albträume und Angst vor dem Sterben«, sagte Kasi, »da hat er mir die Geschichten erzählt.«
» Hat’s wenigstens geholfen?« Kasi nickte.
» Ja. Ich will zwar nicht sterben, aber ich habe jetzt keine Angst mehr davor. Jesus, also, der ist schon für uns gestorben …«
» Hä?«
» Du gehst nicht gern in die Kirche, oder?«
» Hör mir bloß auf mit dem Scheiß! Nicht mal zu Weihnachten geh ich in die verdammte Kirche!«
» Du sollst nicht fluchen.«
» Blödsinn.« Alex streckte sich und lächelte. »Fluchen ist geil.«
» Was soll daran …«
» Alles«, fiel ihm Alex ins Wort. »Fluchen ist der Ersatz für alles das, was man als Kind nicht kann: ein Tritt in den Arsch meines Vaters, ein ausgestreckter Mittelfinger für den Pfarrer …«
» Alex!«
»… oder für unsere lieben Lehrer ein …«
» Hör bitte auf«, sagte Kasi und rutschte auf seiner Matratze hin und her.
» Warum? Ich find Fluchen toll.«
» Ich nicht.«
» Fluchst du nie?«
Kasi schüttelte den Kopf. »Wann denn?«, fragte er. Alex suchte nach einer kasitauglichen Scheißsituation.
» Zum Beispiel, wenn du dir mit dem Hammer auf den Daumen schlägst. Sagst du dann nicht Scheiße oder so was?«
» Nägel schlägt mein Papa ein.« Alex verdrehte die Augen.
» Und was ist, wenn du mit dem Fahrrad stürzt und dir das Knie aufschlägst? Was sagst du dann?«
» Au«, antwortete Kasi wahrheitsgemäß.
» Hä?«
» Na, Au eben.«
» Und sonst nichts? Kein Mist oder Scheiße oder verdammter Mist oder …«
» Nein, das würde Gott bestimmt nicht gefallen«, sagte Kasi.
» Und warum hat Gott uns dann diese Worte gegeben?«, fragte Alex und freute sich über diesen Gedankenblitz. Aber Kasi wusste auch darauf eine in sein Weltbild passende Erklärung.
» Solche Worte sind bestimmt vom Teufel«, sagte er und nickte dazu. »Bestimmt.«
» Blödsinn! Oder glaubst du etwa, dein Gott erfindet eine Sprache und lässt dann den Teufel darin rumpfuschen?«
Kasimir überlegte einen Moment, dann zuckte er mit den Schultern. Er wusste es nicht und es interessierte ihn auch nicht besonders.
» Es gibt so viel, was ich nicht weiß. Aber bestimmt werden wir im Himmel alles erfahren, das jedenfalls hat meine Mutter gesagt. Im Himmel werden alle Fragen beantwortet und deswegen habe ich auch keine Angst vor dem Tod. Vor dem Sterben schon, vor dem Tod nicht. Ich weiß, dass wir dort oben Rufus wiedersehen und irgendwann auch unsere Eltern und alle anderen auch.«
Dürfte ziemlich eng werden in diesem Himmel , ging es Alex durch den Kopf. Wenn alle jemals gelebten Menschen da versammelt waren … Es musste ein schönes Gefühl sein, wenn man all dieses Zeug glauben konnte, vor allem jetzt, in einer solchen Situation.
» Irgendwie beneide ich dich«, sagte Alex. Er sah Kasimir in die Augen und Kasimir hatte das Gefühl, in die Augen eines Erwachsenen zu blicken, ja selbst erwachsen zu sein. »Ist bestimmt toll, so ohne Angst sterben zu können.«
» Ich hab Angst. Aber ich weiß eben auch, dass es dort oben ganz toll sein wird.«
» Weiß ?«
» Okay, ich glaube es, aber das macht für mich keinen Unterschied. Es wird bestimmt alles gut.« Sterben wollte Kasi nicht, aber für ihn hieß sterben nicht mehr als weggehen . Natürlich, er verließ dabei ein Leben und Menschen, die er liebte, aber es hieß auch, dass das, was auf einen wartete, alles Erdenkliche übertraf. Jeder
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