Apfeldiebe
einen Schrei.
Endlose Jahre hatten einst massives und starkes Holz in eine nur noch von wenigen Fasern zusammengehaltene Karikatur seiner selbst verwandelt, eine Karikatur, welche nicht einmal mehr eine vorsichtig auf ihr abgestellte Getränkekiste sicher getragen hätte, geschweige denn Timis ungebremst herabknallendes Gewicht. Den Bruchteil einer Sekunde hielt die Unterlage noch, die Trägheit der Holzfasern stützte das Wort Hoffnung , bevor aber eines der Kinder überhaupt richtig verstand, in welcher Gefahr Timi schwebte, zerbröselte die Brunnenabdeckung. Timi spürte das Verschwinden der Unterlage – Schwerelosigkeit für einen winzigen Augenblick.
Das Kind bekam das am Brunnenrand liegende Seil zu fassen. Das Seil stürzte in die Tiefe, Timis Hände berührten Stein und das Kind spürte diesen Stein unter seinen Fingern verschwinden. Noch vor ein paar Minuten hatte Timi einschlafen wollen, sterben, weil seinem Empfinden nach nichts mehr existierte, wofür es sich zu leben lohnte. Und manchmal erfüllen sich eben Wünsche, leider aber meist gerade die, welche man doch überhaupt nicht erfüllt sehen wollte. Timi konnte die Nähe des Todes mit Händen greifen und alles in ihm wollte plötzlich wieder leben, weiter atmen und auf den Tod warten . Und hoffen. Seine Fingernägel kratzten über Sandstein, brachen ab. Er sah Max, der, noch immer die Taschenlampe in der Hand, den Mund aufriss und etwas schrie, was Timi nicht verstand. Auch Alex bewegte sich wie in Zeitlupe. Timi fragte sich gerade, ob dies jetzt tatsächlich alles so langsam, Bild für Bild, ablief oder ob er es nur so empfand, ob dies in den letzten Sekunden eines Lebens so üblich sei und Rufus eine ähnliche Erfahrung hinter sich hatte, als sich etwas um Timis Handgelenk schloss – sofort lief der Film wieder in Normalgeschwindigkeit.
Kasi hatte die Gefahr, in der Timi schwebte, zwar nicht als Erster erkannt, aber als Erster darauf reagiert. Er hatte sich von der Wand abgestoßen, war gesprungen, zum Brunnenrand geschlittert und im allerletzten Augenblick schlossen sich seine Finger jetzt um Timis Arm. Kasis Kopf ragte über dem Abgrund, da ging ein Ruck durch seinen Arm und riss diesen beinahe heraus, zerrte das Kind an den Rand des Brunnens und darüber hinaus. Kasi schrie und sein Schrei vermischte sich mit den Hilferufen des Jüngsten. Max brüllte den Namen seines Bruders, während Alex, der ohne nachzudenken erkannte, dass in wenigen Augenblicken beide Kinder im Brunnen verschwinden mussten, Kasi am Fuß packte und so den drohenden Absturz verhinderte.
Als Timi spürte, dass sich sein Wunsch vielleicht doch noch nicht erfüllen sollte, riss er den rechten Arm nach oben. Er strampelte, seine Füße suchten den in die Tiefe führenden, gemauerten Schlund nach einem Vorsprung ab, fanden, rutschten ab und suchten weiter. Jede seiner Bewegungen zog ihn und Kasi einige Zentimeter tiefer in diesen Schlund.
» Alex!« Trotz Alex’ Hilfe rutschte die Brunnenkante unter Kasis Brust Millimeter um Millimeter weiter Richtung Bauch. Timis Leben hing an seinem Arm, aber wenn die Großen nicht bald etwas unternahmen …
Max schüttelte endlich seine Verwirrung ab, ließ die Lampe fallen und sprang zum Brunnen. Neben Kasimir fiel er auf die Knie, streckte sich nach seinem Bruder und bekam ihn zu fassen. Das Ziehen und Zerren an Kasis Arm ließ nach, aber nicht die Schmerzen in diesem Arm. Blut sickerte durch den verkrusteten Verband.
» Ich hab dich, Timi!« Max hielt Timi mit beiden Händen, die Brunnenkante hatte fast Kasimirs Bauchnabel erreicht. Der Kleine schwebte in die Höhe. Wieder festen Boden unter den Füßen, riss er sich los, schrie, schlug beide Hände vors Gesicht. Der Tod klebte wie ein riesiges Spinnennetz überall an und im Körper des Achtjährigen. Alles brannte, jede Faser, jeder Nerv aufs Empfindlichste gespannt, wusste Timi nicht, wie er diese Angst noch länger aushalten könnte. Er wollte endlich heim, wollte leben! Er rannte auf den Schutthaufen, weinte und brach auf dessen Gipfel zusammen.
Max stürzte dem Bruder hinterher. Timi durfte nichts geschehen! Er war für ihn verantwortlich, er liebte ihn wie sonst nichts.
» Timi.« Max wollte Timi in den Arm nehmen, der aber schrak vor der Berührung zurück. Doch dann erkannte er Max, den richtigen Max, den guten und ihn beschützenden Max, den Max, den er liebte und er ließ sich umarmen und umarmte selbst. Gerettet. Max drückte den kleinen Körper an sich, küsste sein
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