Apfeldiebe
Schwappte milde Luft aus dem Süden über die Alpen, kam dann vielleicht auch noch Föhn hinzu, dann zauderten Mensch und Natur zuerst, fielen letztendlich aber doch auf das Locken dieser viel zu schönen Frau herein. Seiler verglich diese milden Januartage immer mit der schönsten aller Frauen, der Unerreichbarsten, mit der, die ihn im Normalfall nicht einmal beachten, geschweige denn anlächeln würde. Man konnte es nicht glauben, aber sie lächelte weiter und weiter und zuletzt tappte jeder in ihre Falle. Meisen begannen zu zwitschern und in den Bäumen stieg neues Leben auf. Katzendamen räkelten sich in der Sonne und genossen dabei die vielen Verehrer, die in gebührendem Abstand ihr Locken beobachteten. Und die Menschen gingen hinaus ins Freie und gerade, wenn man zu glauben begann, das Wissen um den Kalenderstand ignorierte und vor der Schönheit in die Knie ging, drehte die sich einfach weg, schlug den Kragen auf und zeigte Mensch und Natur die kalte Schulter. Ein ganz übler Monat, um seine Liebe zu suchen. Ganz, ganz übel.
Seiler zerteilte seinen eigentlich fürs Frühstück vorgesehenen Apfel und steckte sich einen Bissen in den Mund.
Nur im August konnte er, wenn überhaupt, Mona-Lisa noch finden. Morgen.
Dem Befehl seiner Blase folgend, schlug Seiler nun doch die Decke zurück, aber es störte ihn kein bisschen. Mit sich und der Welt im Reinen, erledigte er, was erledigt werden musste, legte anschließend noch etwas Holz ins Feuer, zog sich die Decke über die Ohren und schlief unmittelbar darauf ein.
36 Rettung
Vom Geschehenen paralysiert, wagten weder Timi noch Max eine Bewegung. Sie hielten sich in den Armen. Max versuchte, über Timis Schulter hinweg das gemeinsame Bild an der Wand zu erkennen, aber die Dunkelheit hatte es verschluckt wie fast alles in diesem Raum. Kasimirs Hinterlassenschaft lag neben Alex und ihr Glimmen hatte mit dem Licht einer Taschenlampe kaum mehr etwas zu tun. Max kniff die Augen zu Schlitzen zusammen; gab es den durchgestrichenen Max noch? Stand er weiterhin an seinem Platz?, fragte sich sein Schöpfer. Plötzlich fror Max. Was, wenn seine Gedanken den Spinnenmax von der Wand geholt hatten, wenn diese Spinne eben das Mädchen – Max’ Wunsch entsprechend – in die Tiefe geworfen hatte? Nein, dies war unmöglich, kein Mensch der Welt konnte mit seinen Gedanken eine Zeichnung an der Wand in Bewegung setzen! Und wenn doch? Hatte er selbst gestern nicht genau dies beobachtet? Wie sein Abbild über die beiden anderen Figuren geklettert war und dem Mädchen-Strichmännchen die Kehle zugedrückt hatte? Max zitterte. Das Mädchen hatte sich vor einer halben Minute verabschiedet und er zitterte? Max wartete auf seinen Jubelschrei, aber statt sich zu freuen, hielt er einen kleinen Bruder im Arm und ließ sich von dessen Angst anstecken. Timis Angst schürte Max’ Angst und er hatte Angst, Angst vor sich selbst, Angst vor der Macht, die seine Gedanken ganz offensichtlich besaßen. Er konnte seine gedachten Spinnen töten lassen, einfach so.
Kasis Sturz hatte Alex wie ein Schlag ins Gesicht getroffen. Er saß vor dem Brunnen, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, unfähig, sich zu bewegen und einen Blick in die Tiefe zu werfen. Das Sterben hatte also begonnen, anders zwar als erwartet, aber der Berg hatte Rufus wohl inzwischen verdaut und Hunger nach einem zweiten Opfer bekommen. Das von Timi in den Brunnen gerissene Seil bewegte sich noch, als habe es der Berg im Maul, während er auf Kasi herumkaute. Und sie hatten gedacht, dieser Brunnen könne sie retten, wenigstens für ein paar Tage am Leben erhalten. Stattdessen entpuppte sich diese Rettung nun als Fluch. Hätten sie ihn doch niemals entdeckt.
Das Maul des Berges atmete und stöhnte, schmatzte und sein Speichel plätscherte wie frisches Wasser. Alex sah auf: rief dieses Maul jetzt nach ihm? Wollte es ein zweites Opfer, einen Alex zum Dessert? Alex schüttelte den Kopf. Begann es jetzt auch schon bei ihm, das mit den Stimmen im Kopf? Kam das so, wenn man ganz langsam starb, wenn man verhungerte, gefangen in einem Berg? Hörte man dann den Tod rufen, ihn stöhnen und flüstern? Oder …
Alex packte die Taschenlampe so plötzlich und so heftig, dass Timi und Max zusammenschraken. Alex kurbelte, rutschte zum Brunnenrand und leuchtete hinab. Ganz da unten, auf dem Spiegeltablett am Grund des Brunnens, trieb eine Kinderleiche, aber nicht wie man es von einer solchen erwarten durfte, mit gespreizten Armen und dem
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