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Apfeldiebe

Titel: Apfeldiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Gesicht, seine Hände und Arme, Max weinte. »Alles wird gut, Timi. Alles. Wir haben dich. Dir kann nichts mehr passieren. Ich …«
    » MAX!«
    Alex’ Schrei kam zu spät. Sie hatten sich um Timi gekümmert, sie hatten ihn gerettet und dabei die Gefahr, in der Kasimir schwebte, schlichtweg übersehen. Wie eine menschliche Wippe, so lag Kasimir über dem Abgrund. Jeden Muskel angespannt, versuchte er sich steif zu machen, Kopf und Brust nach oben zu biegen. Er hielt dabei die Luft an, denn ein einziger Hilfeschrei hätte die aufgebaute Körperspannung in Pudding verwandelt und das Kind in den Abgrund geschickt. Er dachte daran, die Arme nach vorn zu reißen und sich so an der gegenüberliegenden Kante abzustützen, aber konnte dies funktionieren? Die jetzt nach hinten gestreckten Arme vorzuholen hieße, das Gleichgewicht zu verlieren und zu stürzen. War sein verletzter Arm dem eigenen Gewicht bereits wieder gewachsen? Und wenn nicht, konnte er sich mit nur einem Arm so über dem Schacht halten?
    Antworten auf diese Fragen erhielten weder Kasimir noch die anderen Jungen. Kasi verlor das Gleichgewicht. Zehn Kinderjahre rutschten unter Kasimirs Körper davon, blieben zurück. Kasi sah die Welt über sich versinken. Wie kann etwas versinken, das sich über mir befindet , fragte er sich. Aber diese Welt, kreisrund, sie schrumpfte, konzentrierte sich in einem kleiner werdenden Kreis. Einer Kugel? Schwebte er durchs Weltall und da, dort über ihm, flog die Heimat davon?
    Max sah gerade noch ein Paar Füße verschwinden. Alex schrie und sprang zum Rand – aber zu spät.

LETZTER TAG

35 August

    Nichts von dem ahnend, was sich nur wenige Hundert Meter entfernt abspielte, erwachte Gernot Seiler. Ein Blick zum Himmel verriet ihm, dass es wohl so gegen Mitternacht sein mochte, vielleicht auch eine halbe Stunde früher oder später, so genau ließ sich das hier unten im Tal, eingesperrt zwischen Tannen, welche die Sicht versperrten, nicht sagen.
    Seiler blieb auf dem Rücken liegen, zog sich die Decke bis ans Kinn und verschränkte die Arme unter dem Kopf. Eigentlich sollte er jetzt aufstehen, aber da unten drückte nichts, gut, vielleicht ein ganz kleines bisschen, aber längst nicht so wie gewohnt. Jedenfalls nicht aufstehenswürdig. Es kam ihm so vor, als sei alles mit dem Hier und Jetzt einverstanden und wollte dies den alten Mann so lange wie möglich genießen lassen, vielleicht ein allerletztes Mal, wer wusste das schon.
    Seiler suchte den Himmel nach Mona-Lisas Stern ab, nach dem einen Auge, welches sie beim Einschlafen vielleicht gemeinsam betrachtet hatten, aber natürlich hatte dieses Auge nicht unbeweglich stundenlang auf Seilers mitternächtliches Suchen warten können. Längst irgendwo im Westen verschwunden, betrachtete der Stern jetzt andere Liebende, wurde von diesen gesucht und hoffentlich auch gefunden. Der erste und der letzte Gedanke eines jeden Tages: Mona-Lisa.
    Obwohl Seiler kurz vor dem Einschlafen noch einen armdicken Stamm in die Glut gelegt hatte, stieg jetzt nicht mehr als eine dünne Rauchsäule in die Nacht. Seiler rutschte zur Feuerstelle, pustete gegen das verkohlte Holz und als dieses zu glühen begann, legte er zuerst einige vertrocknete Grashalme, danach dürre Ästchen darüber. Noch einmal pusten, dann züngelte eine erste Flamme, fand Nahrung. Ja, wusste Seiler, während er sich die Hände wärmte, dieser Monat war der ideale Monat, um die Suche nach seiner Liebe endlich zu beginnen, denn der August erzählte von Wärme und vom Ernten – ein ehrlicher Monat.
    In Seilers Augen verkörperte jede Jahreszeit – ja sogar jeder Monat – eine Frau, jedoch nie die gleiche. Der Mai kam wie ein junges Mädchen angerannt, mit offenem, langem Haar und einem Strahlen in den Augen, welches jeden um den Verstand bringen konnte. Sie tanzte und drehte sich und sang. Aber Schnee- oder Hagelschauer, ein später Bodenfrost – und die Glut des Mädchens verwandelte sich in Tristes, an welcher die Natur den ganzen Rest des Jahres noch zu knabbern hatte.
    Der November erschien als altes Weib, einer der wenigen wirklich ehrlichen Monate. Dieses Weib versprach nichts, gaukelte, anders als der Januar, nichts vor, sondern zeigte sich so, wie es war: gebeugt, voller Frostbeulen und mit von Feuchtigkeit gekrümmten Fingern und leeren Brüsten. Selbst ein warmer Tag konnte dieses Bild nicht verdrängen, die Alte blieb alt und krank und hässlich.
    Was aber Novemberwärme nicht schaffte, das vermochte der Januar.

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