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Apfeldiebe

Titel: Apfeldiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Gesicht im Wasser. Die Leiche da unten bewegte sich im Speichel des Berges und der eine große Spiegel bestand aus Tausenden Fragmenten, die sich unablässig vereinten und wieder zerbrachen und noch einmal zueinanderfanden. Die beiden Leichenarme ruderten und das Leichengesicht sah jetzt nach oben, öffnete den Mund und rief mit Kasimirs Stimme Alex’ Namen!
    Kasi lebte!
    » KASI! Kasi lebt! Max, Timi, schnell, kommt her und helft mir!«
    Das Brüderpaar reagierte nicht sofort. Timis Augen weiteten sich – es dauerte eine Handvoll Sekunden, bis der Achtjährige wirklich verstand, dann aber befreite er sich aus Max’ Umarmung, rutschte die Halde hinab und kniete sich neben Alex. Max jedoch, der verstand zwar die Worte, auch ihre Bedeutung, nicht aber den Sinn des Ganzen. Wieso sollte das Mädchen noch leben? Besaßen er und seine Spinne doch nicht diese allumfassende, mädchentötende Macht? Oder erlaubte sich Alex nur einen Scherz, auf seine Kosten verstand sich, immer auf Max’ Rücken. Nein, wusste Max, Alex log. Da unten, am Grund des Brunnens, da lag diese Brillenschlange, eingepackt in Millionen haarfeiner Spinnweben, geschaffen von seinem Ebenbild. Da unten, da hing die Nahrung für die Zeit nach seiner Verpuppung! Das Mädchen war tot! Alex erzählte Lügen, Lügen, nichts als Lügen!
    Max sprang auf und stürzte seinem Bruder hinterher. Alex stand neben dem Schacht und hielt das Seil mit beiden Händen. Wollte er Wasser schöpfen? Jetzt? Auf seinen Scherz anstoßen und über Max lachen?
    Aber Alex hatte nicht gelogen, Max genügte ein flüchtiger Blick in die Tiefe. Kasi lebte und die Strichmännchenspinne hatte versagt.
    Er selbst aber würde nicht versagen!
    Max stieß Alex zur Seite und riss diesem das Seil aus der Hand. Plötzlich wusste er, dass dies hier alles nur eine Prüfung für ihn sein konnte. Die Spinne hat das Mädchen gestoßen und jetzt – die Prüfung – war es an Max, das Begonnene zu vollenden. Er zerrte am Seil, aber am anderen Ende, tief unten am Grund der Spinnenhöhle, klammerte sich die Beute an diesen Strohhalm. Max rannte wie von Sinnen im Kreis um das Loch im Boden, zog, schüttelte das Seil, ließ kurz locker, um sofort wieder mit seinem ganzen Gewicht daran zu zerren. Er musste das Ding da unten abschütteln, das erwartete man von ihm, das erwartete er selbst von sich. Reißen, schütteln, rennen, über Timi springen.
    » Spinnst du?!« Alex kam auf die Beine und stellte sich Max in den Weg, wollte ihm das Seil wegnehmen. Aber so einfach ließ sich ein Auserwählter nicht von einem ihm als Nahrung Versprochenen aufhalten, egal ob der Versprochene nun Kasi oder Alex hieß. Max rannte, stieß Alex die Schulter gegen die Brust und ihn so aus dem Weg, riss am Seil und plötzlich (Höret den tausendstimmigen Jubel des Spinnenchores!) verlor dieses seine Last und Max das Gleichgewicht. Er stolperte gegen die Wand, drehte sich um und lachte. Und mit einem Lächeln im Gesicht, das vor Zufriedenheit und Glück mit Kasis Lampe um die Wette strahlte, zog er das Seil aus dem Brunnen, Zentimeter um Zentimeter glitt über den Rand. Konnte das Mädchen schwimmen?
    » Hört doch, wie schön unsere Brillenschlange winseln kann, fast wie ein Hündchen«, sagte Max. Er wusste, dass er jetzt, in diesem Augenblick, all seine Probleme gelöst hatte: niemals würde dieses Mädchen etwas erzählen können, keine einzige seiner Lügengeschichten würde diesen Berg verlassen, nur er, Max die Spinne, war hierfür auserkoren und während Rufus unter Steinen verfaulte, würde die Mädchenleiche, am Grund des Brunnens wie in einer Marinade schwimmend, die Zeit bis zu Max’ Wiedergeburt in genießbarem Zustand überstehen.
    Alex’ Taschenmesser riss Max aus seinen Träumen. Plötzlich spürte er die Klinge am Hals.
    » Du bist krank«, schrie Alex und riss Max das Seil aus den Händen. »Krank bist du. Und böse!« Alex drehte sich zum noch immer am Rand des Brunnens kauernden Timi um. Abwechselnd leuchtete der nach unten, wo Kasimir wie eine Fliege im Wasserglas um sein Leben ruderte, und zu Max. Timi verstand nichts von dem, was hier geschah, nicht dass Kasimir noch lebte, nicht das Verhalten des großen Bruders. Wie es schien, galten keine alten Gesetze mehr, weder die der Natur noch die zwischen Geschwistern. Timi ahnte nicht einmal, dass seine eigenen Hände für Kasimirs Überleben verantwortlich zeichneten. Schwerelos über der Brunnenöffnung liegend, hatte er auf der Suche nach einem Halt das

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