Apfeldiebe
Seil in die Tiefe gestoßen. Kasi hatte im Fallen den Rettungsanker zu fassen bekommen, sich an diesen geklammert, war an ihm nach unten gerutscht und hatte so den Aufschlag deutlich gemildert. Kasis Hände bluteten, Hautfetzen klebten am Kunststoff des Seiles, das gerade den Brunnenrand erreichte. Aber Kasi lebte, auch wenn das Greifen nach diesem Seil beinahe die Arme des Jungen herausgerissen hatte, er lebte und die Schuld daran trug Timi.
Und jetzt? Wie lange konnte Kasimir noch in seinem Wasserglas schwimmen, wie lange noch nach einem Halt an der schmierigen Wand suchen und ihn nicht finden?
Timi sprang auf. Er nahm das Seil und ließ, was sein Bruder Stück für Stück nach oben gezogen hatte, wieder hinab.
» Kasi, hier. Pass auf, ich lass das Seil wieder runter!«
» Nein!«, schrie Max, aber Timi drehte sich noch nicht einmal mehr nach seinem Bruder um. Kasi hatte ihn gerettet und jetzt rettet er Kasi, egal was Max dazu sagte. Der Rettungsanker fand seinen Weg nach unten, berührte Kasis Fingerspitzen.
Vom Messer an seinem Hals und von Timis Verrat gelähmt, starrte Max auf den kleinen Bruder. »Nein«, flüsterte er dazu und immer wieder »Nein«. Das gerade erst nach oben gezogene Seil verschwand im Boden, aber das durfte nicht sein. Niemand hatte das Recht, das von ihm begonnene Werk zu zerstören, noch nicht einmal ein kleiner Bruder.
» NEIN!«, brüllte Max und sprang nach vorn.
Die an seinen Hals gehaltene Klinge rutschte darüber hinweg und Alex aus der Hand. Max beachtete weder seinen früheren Freund noch den Kratzer am Hals – er sah nur noch Timi und das Seil und wusste, dass er eingreifen musste, wollte er nicht die Spinnen für immer gegen sich aufbringen. Er streckte die Arme aus, beugte sich nach vorn, öffnete den Mund zu einem weiteren »NEIN!«, als …
… Alex’ Faust ihn stoppte. Knapp unterhalb des Auges getroffen, flog Max’ Kopf nach links und der dazugehörende Körper schwankte ebenfalls in diese Richtung. Aber Max’ Willen schien in diesem Augenblick unbezwingbar. Er blieb kurz stehen und schüttelte den Kopf, ohne dabei von Alex in irgendeiner Form Notiz zu nehmen – für Max existierte nur die ihm von der Spinne gestellte Aufgabe. Er stolperte weiter und Alex’ zweiter Schlag traf ihn am Kinn. Alex schrie auf, Max hingegen fiel nach hinten.
Als Max nur drei Minuten später aus seiner kurzen Ohnmacht erwachte, lag er mit auf dem Rücken gefesselten Händen im Dreck. Alex hatte ein Stück vom Seil abgeschnitten und zuerst Max’ Arme, anschließend dessen Füße gefesselt. Und zum Schluss beides zusammengeknotet.
» Kasi?«, schrie Alex nach unten und der aufgerissene Rachen des Berges schrie dieses Wort zurück. »Kasi, kannst du dich festhalten? Wir ziehen dich hoch.« Das von Timi zurückgegebene Seil bewegte sich unmerklich und Timi kniete neben diesem Seil, leuchtete mit Kasis Lampe in die Tiefe und kurbelte und kurbelte, obwohl die Lampe schon ihr Bestes gab.
» Vielleicht«, kam es aus der Tiefe. »Meine Hände sind ganz wund, ich weiß nicht, ob ich das schaffe.«
» Probier es, ja?«
» Okay.«
» Fertig?« Alex spürte die Bewegungen im Seil und wie sich das an seinen Händen ziehende Gewicht verdoppelte.
» Ja.«
Alex wickelte sich das Seilende ums Handgelenk und auch Timi griff nach dem Seil. »Zusammen«, sagte Alex und wusste doch ganz genau, dass es nun einzig von ihm und seiner Kraft abhing, Kasimir zu befreien. »Und nicht loslassen, Timi! Kasi hängt dran.« Timi nickte und hinter Timi lag Max, in hoffentlich sicherer Entfernung.
Kasi fror, das eiskalte Wasser hatte innerhalb weniger Sekunden die ganze brennende Glut in seinem Innern gelöscht. Dieses letzte Aufbegehren aus Adrenalin und Hoffen – erfroren und so steif wie die Arme und Beine des Kindes. Die Achterbahnfahrt der letzten Minuten, Absturz, Rettung durch das Seil, das Verschwinden desselben und den neuerlichen Lichtschein am Horizont, all das wäre für einen gesunden Erwachsenen schon viel, für ein durch Hunger und einen verletzten Arm geschwächtes Kind konnte es das Ende bedeuten. Kasimir aber wollte leben. Er klammerte sich an das Seil und wartete auf die Fahrstuhlreise nach oben, aber schon, als sich dieser Fahrstuhl mit einem ersten Ruck in Bewegung setzte, wusste Kasi, dass er diese Fahrt nicht überstehen konnte. Seine Handflächen brannten schlimmer als Max’ Biss damals und beide Schultergelenke fühlten sich an, als habe jemand Nägel in diese getrieben und
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