Apfeldiebe
quadratischen Sitzfläche obendrauf. Er pustete den Staub weg und setzte sich, ganz langsam und immer in der Erwartung, die wurmstichigen Beine gäben nach. Aber sie hielten.
Max’ Stimme, die vor allem in Momenten der Aufregung ungeahnte Höhen erklimmen konnte, hatte Rufus noch nie gemocht. In seinen Ohren hörte sie sich immer nach einer einzelnen Geigensaite an, die jemand mit einem Sägeblatt traktierte. Gerade schwang sich dieser Jemand zu wahren Höchstleistungen auf – Max wollte unbedingt ein König sein, wahrscheinlich einer, der den ganzen Tag auf seinem Thron saß und die Huldigungen, vor allem aber die kulinarischen Ergebenheitsbekundungen seiner Untertanen in Empfang nahm, dachte Rufus. Alex’ Pläne hingegen sahen eine Art Räuber-und-Gendarm-Spiel vor. Alex wollte mit noch jemandem an seiner Seite (Mit wem wohl?) die anderen drei verfolgen und gefangen nehmen. Gerade eben hatte er sich den nächsten Raum angesehen. Fässer, Fässer und nochmals Fässer. Und zwei weitere Ausgänge – genügend Möglichkeiten also, sich zu verstecken, einander zu jagen und gefangen zu nehmen. Kinder.
Rufus steckte sich die Stöpsel in die Ohren und Max’ Lachen verschwand hinter Maiskys Cello. Er schloss die Augen. Was sollte das hier alles? Warum hatte er sich zu diesem Ausflug überreden lassen? Er vermisste das Tageslicht. Er vermisste seine Mutter und die Unterhaltung mit ihr. Er sollte nicht hier sitzen, metertief unter der Erde, mit Typen wie Alex und Max, Jungen, denen er normalerweise aus dem Weg ging und die in diesem halben Jahr, das er nun schon in Wittlekofen lebte, gelernt hatten, dass er sich weder besonders gut ärgern ließ noch auf ihre Provokationen angemessen reagierte. Wie hatten sie sich, allen voran Alex, auf den Neuankömmling gestürzt, ihn im Schulbus wegen seiner schwarzen Kleidung verhöhnt. Wie hatten sie sich über seine täglichen Gänge auf den Berg lustig gemacht. Aber alles ohne Erfolg, Rufus versteckte sich hinter Ohrstöpseln und geschlossenen Augen und die Attacken prallten von ihm ab wie Tischtennisbälle. Nur einmal, als sie ihn nach seiner Mutter fragten und Mutmaßungen über deren Verbleib anstellten, hatte er beinahe die Beherrschung verloren. Ein Neuntklässler stellte die Vermutung in den Raum, dass die abhandengekommene Mutter des Schwarzen wahrscheinlich davongelaufen war, welche Mutter wollte schon so ein komisches Kind haben. Rufus musste alles an Selbstbeherrschung aufbieten, stellte die Musik etwas lauter, ballte die Fäuste und Mutter hatte ihm dabei geholfen. Sie sah ihn an und schüttelte nur mit dem Kopf, wie sie es immer dann getan hatte, wenn er sie im Morgenrock am Küchentisch sitzend fand und sie fragte, ob alles in Ordnung sei. Dann hatte sie den Kopf geschüttelt und dabei etwas von der Traurigkeit ihrer Augen in seine Augen gelegt. Mutter war immer bei ihm und würde es immer bleiben und jetzt sollte er bei ihr sein, oben auf dem Berg, ihr von dieser Expedition erzählen, ihr zuhören. Die Felsmassen über seinem Kopf aber wirkten wie ein Schild, welches Mutters Gedanken abhielt und den Kontakt zu ihr unmöglich machte. Natürlich, Rufus konnte an sie denken und das tat er auch, aber seine Mutter antwortete nicht.
Kasi hatte sich das Schwert geschnappt und kämpfte gegen den eigenen Schatten an der Wand. Dieser wehrte sich, wich Angriffen aus, schlug zurück und wahrscheinlich würde er, der Schatten, den Sieg davontragen, auf jeden Fall aber ein Remis erzwingen. Kasi, fand Rufus, gehörte ebenso wenig hierher wie er selbst. Was hatte ein kleiner Streber mit Brille und frisch gewaschenen, langen Haaren hier zu suchen? Wieso saß er nicht zu Hause und las ein Buch? Wieso saß er nicht neben Mama und Papa in der Kirchenbank und trällerte Liedchen? Wahrscheinlich, weil eben auch ein Kasimir nichts anderes als ein Kind war, ein Junge auf der Suche nach Freunden, nach Anerkennung und einem kleinen Abenteuer. Es war eben ein Unterschied, ob man all die Rittergeschichten nur las oder ob man sie selbst erlebte, auch wenn es nur ein Spiel war und seltsame Gestalten, die sich Ritter Alex und Ritter Max nannten, dabei im Wege standen. Aber in jeder guten Rittergeschichte gab es eben auch Ungeheuer, dass es hier allerdings gleich zwei sein mussten …
» Los!« Plötzlich stand Max neben Rufus, riss diesem einen Stöpsel aus dem Ohr und brüllte ein zweites Mal: »Los! Verschwinde! Du bist ein Böser und ich und Alex werden dich finden, dich und Kasi, die zwei
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